Cloud-TV?

Statement in der Podiumsdiskussion des MCIR, Bayerische Akademie der Wissenschaften 16.05.2017


[Video] Diskussion ab 51:51, mein Beitrag ab 1:10:46

Stellen Sie sich bitte vor, sie müssten für die Geschäftsleitung von Amazon oder von Netflix eine strategische Wettbewerbsanalyse im Hinblick auf die deutschen Fernsehanbieter ARD und ZDF machen. Sie würden vermutlich drei Merkmale hervorheben: Es sind lokale und nicht globale Player, ihr Hauptgeschäft findet in einer linearen Nische statt, und sie sind nicht in Social Media verankert und vernetzt. Den regelmäßigen Zufluss vieler Milliarden Euro werden Sie bemerkenswert finden, und auch den Sendern eine gewisse journalistische Kompetenz nicht absprechen.
Wenn ich den lokalen Charakter unbeachtet lasse, der auch im Wettbewerb gewiss eher eine Stärke ist, bleiben zwei eklatante Schwächen, aus denen in der Perspektive der globalen Marktentwicklung die mangelhafte Zukunftsfähigkeit der genannten Unternehmen geschlossen werden könnte: die Orientierung an der linearen Verbreitung und die fehlende Vernetzung mit dem Publikum.
Der Begriff Cloud-TV dient offenbar dazu, den Fernsehbegriff um die nicht-lineare Verbreitung zu erweitern. Neben dem tatsächlichen Betrieb von Abrufangeboten geht es dabei auch um ihre rechtliche Legitimation. In dem Gutachten, dass Herr Picot zusammen mit den Kollegen Dörr und Holznagel verfasst hat, wird Cloud-TV als eine Ergänzung der linearen Verbreitung beschrieben, neben der das lineare Fernsehen noch lange Bestand haben wird. Ich bin mit dieser häufig zu hörenden Formel recht unglücklich, auch wenn ich ihr oberflächlich zustimme. Sie erregt den Verdacht, dass die anstehenden Aufgaben der digitalen Transformation des Fernsehens und der Rundfunk-Unternehmen nicht ernst genug genommen und nicht konsequent genug angegangen werden sollen. Es reicht in meinen Augen nicht aus, nicht-lineare Angebote in Mediatheken zu machen und ansonsten die Priorisierung der linearen Verbreitung beizubehalten. Der Kampf der verschiedenen Verbreitungs-Plattformen um Online-Relevanz hat schon längst begonnen.
Das zweite große Defizit im globalen Vergleich ist die mangelnde Vernetzung – mit dem Publikum, aber auch mit allen anderen Angeboten, bei denen das sinnvoll und (auch rechtlich) möglich ist. Sein Grund ist das Festhalten am Paradigma der Verbreitung. Traditionelle Massenmedien sehen sich als Auslöser von Kommunikation durch die Erzeugung und Verbreitung von Inhalten, auf die dann ein Feedback des Publikums erfolgen darf. In der digitalen Medienkultur findet jedoch permanent omnidirektionale Kommunikation statt. Um es auf eine kurze Formel zu bringen: Im Idealfall sind die Angebote, die von den Medienunternehmen bereitgestellt werden, Beiträge zu einer laufenden Kommunikation mit dem Publikum. – Es gibt ein schönes Beispiel dafür, sogar aus der ARD, nämlich den mehrsprachigen Flüchtlingskanal WDRforyou bei Facebook, der 275.000 Fans hat und neben Texten – auf arabisch, englisch, deutsch – Videos, zum Teil sogar live anbietet. Hier ist die kommunikationsbasierte Vernetzung quasi bilderbuchartig realisiert.
Ich möchte noch ein Problem ansprechen, von dessen Lösung auch ein Teil der Zukunft des öffentlich-rechtlichen Rundfunks abhängt. Für den zeitunabhängigen Abruf stellen die Sender fast ausschließlich nur neue Programmanteile zur Verfügung, meist für sieben Tage nach einer linearen Sendung. Verglichen mit den für das Publikum unzugänglichen Rundfunkarchiven sind diese sogenannten Mediatheken jedoch nur die Spitze des Eisbergs. Die Archive enthalten das audio-visuelle kulturelle Gedächtnis unseres Landes, aber zu ihrem Betrieb gibt es nicht einmal einen gesetzlichen Auftrag, die Intendanten könnten sie jederzeit ersatzlos abschaffen. Schleichend geschieht dies ohnehin, paradoxerweise sind im Laufe der Digitalisierung der Bestände große Anteile vernichtet worden. Kriterien dafür sind nicht bekannt, falls es welche gibt. Die Sichtbarmachung (über die Metadaten) und – nach Klärung vor allem der rechtlichen Voraussetzungen dafür – die Nutzbarmachung der digitalen Archivinhalte ist eine der großen Aufgaben, um die sich die deutschen Rundfunkanstalten seit langem herumdrücken.
Zum Schluss: Die deutschen Fernsehveranstalter sind noch weit entfernt davon, sich als digitale Medienunternehmen zu begreifen, bei denen die lineare Programmverbreitung ein Sonderfall ist. Die digitale Transformation ist mit der digitalen Produktion und Verbreitung noch keineswegs abgeschlossen, erforderlich ist auch die Transformation der Rundfunkunternehmen selbst und ihrer Strukturen. Erst damit, und nicht mit Cloud-TV, werden sie zukunftsfähig werden.