Spengler – Benn – Bense
(Manuskriptfassung eines 2017 erscheinenden Buchbeitrags. Diese Fassung ist nicht zitierfähig.)
Resonanzräume
Oswald Spenglers zweibändiges Werk Der Untergang des Abendlandes (1918/1922) hat fast ein Jahrzehnt lang eine bemerkenswerte Aufnahmebereitschaft in den deutschen Eliten gefunden. Sein unsystematischer Charakter und seine formalen Ungleichgewichte haben von Beginn an eklektische Lektüren und Interpretationen angestoßen, die seiner weiteren Verbreitung allerdings eher noch gedient als geschadet haben.
Bertolt Brecht hält in seinem Tagebuch einen Besuch beim Journalisten und Weltbühne-Autor Frank Warschauer im September 1920 in Baden-Baden fest:
Er vibrierte von Spenglers großem Buch und sang Arien vom Zionismus. Dieses Land um uns geht kaputt, ist alle, versinkt, und nichts ist besser als Zion. Er hat zuviel Ziel in sich, er wickelt in alle Verhältnisse Sinn, er glaubt an Fortschritt und daß ein Lurch eben nicht anders kann, als irgendeinmal ein Affe zu werden.[1]
Diese Konfusion weist trotz der Erfahrung vitaler Bedrohungen im Ersten Weltkrieg (und der zunehmenden Ahnung noch kommender) popkulturelle Züge auf. Spengler ist ein Autor, der zu allem etwas zu sagen hat, und über den alles gesagt werden kann. Unbeeindruckbar durch die neueren Erkenntnisse der Biologie, Physik oder Psychologie integriert die populäre Spengler-Interpretation auch das, was sie davon verstehen will, in ein Konglomerat solcher Gegensätze wie der von Kultur und Zivilisation, Geschichte und Leben, Fortschritt und Schicksal. Spengler steht allerdings mit seiner organizistischen, „morphologischen“ Betrachtung von Geschichtsabschnitten, naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und kulturellen Gewohnheiten nicht allein. Er kann auf einem kultur- und wissenschaftskritischen Fundament aufbauen, das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gegründet wird, und neben ihm entstehen viele Positionen, die sich einer vergleichbaren Methode bedienen, auch wenn sie inhaltlich zu teilweise anderen Kombinationen und Schlüssen kommen als Spengler in seinem Hauptwerk. Zwei deutsche Autoren mit naturwissenschaftlichem Hintergrund – als Arzt und als Physiker – sollen hier mit ihren jeweils spezifischen morphologischen Analysen und Flirts vorgestellt werden, wobei die These vertreten wird, dass ihre Morphologismen sich in Resonanz zu gängigen Krisenempfindungen ihrer Zeit befinden und weniger Reaktionen auf eine durch Spengler ausgelöste Primärschwingung sind.
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