Das Internet als Vehikel der Globalisierung?

Vortrag auf der Arbeitstagung "Vom Charme der Globalisierung"
der Werkstatt Deutschland
21. Juni 1997 in Potsdam

Von Hermann Rotermund

Vorbemerkung

Ich bin den Veranstaltern für die Themenstellung dankbar, zu der Sie hier einige Äußerungen von mir erwarten. Es ergibt sich der seltene Fall, daß eine Antwort von äußerster Eindeutigkeit möglich ist, die vermutlich nicht einmal dann getrübt werden könnte, wenn wir uns der Thematik in all ihrer Komplexität widmeten, wozu ich mich hier und heute nicht berufen fühle. Ich will Sie nicht schon am frühen Morgen auf die Folter spannen: Die Antwort auf die Frage, ob das Internet ein Vehikel der Globalisierung sei, lautet: nein.

Auf das Schlagwort Globalisierung möchte ich bei meiner Begründung überhaupt nur sehr kurz, auf das Internet ein wenig ausführlicher eingehen.

Globalisierung

Die Globalisierung ist eine Formel, die auf viele Erscheinungen angewendet wird, mit denen die Welt schon seit mehr als 150 Jahren konfrontiert ist. Die kosmopolitische Gestaltung der Produktion und Konsumtion aller Länder durch die Bourgeoisie wurde bereits von Marx und Engels im Kommunistischen Manifest in sprachliche Formeln gegossen. Sie erlauben mir vielleicht, zwei kurze Perioden zu zitieren:

Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall muß sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen.

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An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander. Und wie in der materiellen, so auch in der geistigen Produktion. Die geistigen Erzeugnisse der einzelnen Nationen werden Gemeingut.

Angesichts dieser langen Geschichte der Globalisierung stellt sich die Frage, ob die heutigen Versuche, die Grenzen zwischen Welten ­ Kulturen, Religionen, Nationen, Kontinenten ­ aufrechtzuerhalten oder neu zu errichten, nicht dem berühmten Kampf gegen die Windmühlenflügel gleichkommen. Man kann allerdings feststellen, daß Oppositionsstrategien gegen die Globalisierung nicht mehr unter dem Banner der proletarischen Weltrevolution, sondern unter dem Zeichen der Regionalisierung stehen. So finden wir Bemühungen, regional bzw. national errungene soziale Vorteile zu schützen, z. B. den Export von Arbeitsplätzen zu verhindern, den Abbau des Sozialstaats einzudämmen, Umweltstandards vor dem Zugriff des Weltmarkts zu retten usw.

Die Entscheidung, ob unter der Flagge der Regionalisierung schätzenswerte und bewahrenswerte regionale Besonderheiten oder schlicht nur regionale Privilegien verteidigt werden, fällt schwer. Ein naiver Beobachter wie ich hat oft den Eindruck, daß hier zwei irrationale Tendenzen ­ spontan wirkende globale Marktgesetze und fundamentalistische Abwehrhaltungen ­ aufeinanderprallen.

Die weltweite Vernetzung mithilfe der Informations- und Kommunikationstechniken, die mit dem Chappeschen Flügeltelegraphennetz 1799 und mit den Kabelstrecken des Leutnants Werner von Siemens (Frankfurt-Berlin, später Moskau-Krim) begann, hat das seit gut 25 Jahren entstehende Internet ermöglicht. Globale Netze waren vorhanden, das Internet ist eine Folge; die Herstellung oder auch nur die Förderung der Globalisierung ist nicht der Inhalt des Internet, nicht einmal eine Nebenwirkung.

Internet

Zum Internet zunächst einige Positionsbestimmungen auf medientheoretischem Hintergrund, dann möchte ich einige politische Aspkte behandeln und schließlich etwas zur Rolle des Internet im Zusammenhang der Globalisierungstendenzen sagen.

Die neuen Medien sind nicht erfunden worden, um den Menschen zu helfen. Diesen Satz sagte der Medienwissenschaftler Friedrich Kittler einmal über den Computer, man kann ihn jedoch auf die gesamte Palette der technischen Medien, die sich in den letzten 200 Jahren entwickelt haben, beziehen.

Die modernen Medien bewältigen die Speicherung und Übertragung von Informationen inzwischen ohne menschliches Zutun. Menschen schaufeln Inhalte hinein, gegen die die Apparate gleichgültig sind. Die Medienanalyse und andere demoskopische Veranstaltungen sagen uns in Deutschland jährlich post festum, wie die Inhalte sich auf die Rezeption verteilt haben, und nur selten gibt es eine geringe Abweichung von den erwarteten Resultaten. Letztlich konstituieren die Medien unsere kulturelle Identität. Das ist übrigens keine Funktion, die erst den heutigen Medien zufällt. Es ist die Funktion der Medien überhaupt. Die Mythen und Fabeln und die ars memorativa der oralen Kulturen hatten sie ebenso wie die in Schriftform verbreiteten wissenschaftlichen und literarischen Werke der Schriftkultur.

Wie sind unter diesen Bedingungen Leitbilder wie Kreativität und Interaktivität zu bewerten, die sich durch alle modernen Konzepte der kulturellen Kommunikation ziehen? Ermitteln wir zunächst vorurteilslos die Möglichkeiten und die Begrenzungen, die in unserer Kultur für schöpferische Leistungen bestehen. Wir können und müssen davon ausgehen, daß der historische Stand der menschlichen Selbsterkenntnis und der menschlichen Artikulations- und Umgangsformen, den wir Kultur nennen, evolutionär nicht hintergehbar ist. Die von uns geschaffenen Medien sind ein von diesem evolutionären Prozeß untrennbarer Bestandteil. Wir nehmen die Welt vermittels dieser Medien wahr und können uns keinen neutralen Punkt außerhalb dieses Medien- und Kulturzusammenhangs wählen.

Die größte Herausforderung des traditionellen Verständnisses von Kreativität stellt die Kombinatorik der Computersysteme dar. Wenden wir dieses Computermodell auf die menschliche Kreativität an, so müßten wir sagen: Je mehr gespeicherte Elemente zur Verfügung stehen, die sich in ein kombinatorisches Spiel einbeziehen lassen, desto unvorhersagbarer ist ein einzelner Kombinationsakt. Gälte diese Definition, so wäre ein Computer einem Menschen in Sachen Kreativität in den meisten Fällen überlegen. Ein Mensch müßte zumindest die gleichen Chancen haben, Informationen zu sammeln und zu speichern wie ein Computer. Diese Chancen haben die meisten Menschen nicht, und zudem funktionieren die menschlichen Gedächtnisse nicht so wie die Computerspeicher ­ sie sind vergeßlicher. Der Kreaktivitätsvorteil eines Menschen bestände höchstens darin, daß er willkürlich oder begründet Elemente aus einer Kombination ausschließt. Ein Computer kann per Zufallsprogramm Informationen übergehen oder löschen, eine begründete oder auf einer Wertung beruhende Entscheidung kann er nicht treffen.

Wenn wir versuchen wollen, aus dieser sehr knappen Darlegung eine kulturpolitische Zielstellung abzuleiten, dann könnte sie etwa so lauten: Kreativität kann gefördert werden, indem Menschen die maximale Zahl von Wahl- und Kombinationsmöglichkeiten zur Verfügung gestellt wird und indem sie ermutigt werden, eine gezielte Auswahl aus den vorhandenen Elementen zu treffen und diese Auswahl zu verantworten.

Diese Formulierung enthält jedoch einen Widerhaken, der sofort schmerzhaft wirkt, wenn die Betrachtung über einen einzelnen Kreativitätsakt hinausgeht. Die selbstverantwortete Ausgrenzung von Wahlmöglichkeiten kann zur Folge haben, daß in der Folge nicht mehr das Maximum der Optionen zur Verfügung steht, daß also der nächste kreative Akt nicht mehr auf dem gerade erreichten kulturellen Niveau stattfindet, sondern nur eine Art Iteration des vorhergehenden darstellt. Damit würde auch ein Grundsatz verletzt, den der Kybernetiker Heinz von Foerster ­ allerdings mit einem gehörigen Maß an Ironie ­ als sein Motto verkündete: Handle stets so, daß die Anzahl deiner Wahlmöglichkeiten wächst!

Angesichts dieses Dilemmas verstehen wir, warum es so unendlich schwierig ist, Kreativität überhaupt zu bewerten, Kreativität zu fördern, Kreativität über einzelne kreative Akte hinaus etwa zu einem Verhaltensprofil werden zu lassen.

Computer können in den meisten künstlerischen Gattungen nicht mit Menschen konkurrieren, weil wir nicht imstande sind, ihnen die komplexen, durch mehrwertige assoziative Verknüpfungen verbundenen Informationen zu vermitteln, aus denen wir Bewertungskriterien für künstlerische Produktionen gewinnen. In den Bereichen, die wir der Produktinnovation oder -optimierung zuschlagen können, haben die Computer jedoch die besseren Karten und den längeren Atem ­ denken wir beispielsweise an das Design der Karosserie eines Formel-1-Autos oder eines Hochgeschwindigkeitszuges.

Interaktivität, das zweite Leitbild, ist eine Errungenschaft der Computerkultur und nicht zu verwechseln mit dem aus der Soziologie bekannten Begriff der (sozialen) Interaktion. Interaktivität ist die durch Maschinenlogik definierte Wahlmöglichkeit von Menschen, die durch Mensch-Maschine-Schnittstellen mit einem informationsverarbeitenden System verbunden sind. Diese Aussage enthält keine Wertung. Die von Computerspielen gebotene Interaktivität enthält nicht nur im Wort mehr Aktivität als der Fernsehkonsum. Die von Informations-Datenbanken angebotene interaktive Abfrage legt blitzartig Wissensbestände oder Materialien frei, die früher nur durch erniedringende langwierige Suchoperationen zu finden waren. Hier wird durch Interaktivität Lebenszeit und Lebensqualität gewonnen.

Interaktivität generell als positive Orientierung für gesellschaftliches Verhalten anzubieten, ist jedoch ein fragwürdiges Ansinnen. Diese Tendenz ist beispielsweise bei normierten Bewerbungs- und Personalauswahlverfahren zu beobachten, mit denen den Testpersonen skills abgefordert werden, die jedes Computerkid an seinem Gameboy erwerben kann.

Die Interaktivität der Online-Medien bringt allerdings eine neue Qualität ins Spiel. Sie sprengt das Multiple-Choice-Schema, indem sie es Benutzern ermöglicht, das Netzangebot aktiv zu verändern und zu bereichern. Sie schafft damit eine echte Bidirektionalität des Informationsflusses, gegenüber der auf Rückkopplungseffekten beruhenden Interaktion in einem unidirektionalen Informationsfluß, wie man sie bei der Benutzung z. B. einer CD-ROM erlebt.

Das Internet und Probleme der Medienpolitik

Das Internet wurde wie alle technischen Medien seit 1800 nicht durch eine Nachfrage, ein Bedürfnis oder einen auf seine adäquate Kommunikation wartenden Inhalt geschaffen. Es befindet sich derzeit in einer Phase der Suche nach Inhalten zu technisch bereits vorhandenen Lösungen. Die älteren Medien, wie Rundfunk und Fernsehen, verfügen über Inhalte, die eine Nachfrage im Internet finden oder erzeugen könnten, aber nicht bzw. noch nicht über die Formate, die diesem Medium adäquat wären.

Das größte Motiv für die Fernsehsender, im Internet neue, multimediale Angebote zu präsentieren, ergibt sich übrigens aus einem Umfrageergebnis in den USA: Die Zeit, die Nutzer des Internet vor ihren PC verbringen, stammt zu 70 Prozent aus dem Zeitbudgets ihres Fernseh-konsums. Die Inhalte müssen also dahin wandern, wo die Zeitbudgets verbraucht werden.

Aus der staatsvertraglich formulierten Aufgabe der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, die (gebührenfinanzierte) Grundversorgung mit politischen und kulturellen Informationen und mit Bildungsinhalten zu liefern, ergibt sich angesichts allgemein zugänglicher digitaler Netze für diese Institutionen die Notwendigkeit, über eine Konsequenz nachzudenken: Der freie Zugang zu ihren Angeboten in den Netzen und Online-Diensten muß sichergestellt werden. Das bedeutet: Unconditional access zu den künftigen Angeboten des digitalen Rundfunks und Fernsehens und kostenfreier Netzzugang (Freenet) auch zum Internet und anderen schmalbandigen Netzen.

Das Internet ist für die bereits über Inhalte und Produktionseinrichtungen verfügenden Anbieter aus dem Kreis der älteren Medien so interessant, weil sich hier Multimedialität, Interaktivität und die Benutzerakzeptanz verschiedener Formate erproben läßt, die später in breitbandige interaktive Netzangebote migrieren können.

Betrachten wir das World Wide Web, den derzeit attraktivsten Internet-Standard, so können wir folgende Eigenarten ermitteln:

Der Benutzer entscheidet über die Zusammenstellung der Angebote, die auf seinem Bildschirm erscheinen. Es gibt bislang nur wenige gültige Aussagen darüber, welche Inhalte und welche Angebotsformen das größte Interesse wecken oder in irgendeiner Weise wirksam sind. Themenbereiche wie Wirtschaft, Sex, Sport entsprechen dem sozialstatistischen Profil der Internet-Benutzer ­ jünger, männlicher, gebildeter und besser verdienend als der Durchschnitt. Ein Internet-Angebot wird aber nicht einfach dadurch erfolgreich, daß es vorgängig beliebte Themen bedient. Die Benutzerführung, das Angebot von Navigationsmöglichkeiten, ist ein entscheidender Faktor ­ aber es liegen ebenfalls noch zu wenig auswertbare Erfahrungen vor, um eine Aussage über eine wirksame und Bindungen schaffende Benutzerführung machen zu können.

Das WWW ist nicht nur in seiner Ausdehnung, sondern auch in seiner technischen Funktionsweise im Prinzip universal. Seine Multimedialität unterliegt allerdings Einschränkungen, die durch die Bandbreite der Datenübertragung gegeben sind. Diese läßt zur Zeit echte Multimedialität im Prinzip noch nicht zu.

Texte, Bilder und Grafiken, Animationen, Töne, bewegte Videobilder und Virtual-Reality-Techniken werden im Internet auf eine neue Art kombiniert. Das Internet ist ein Testfeld für neue Medientechnologien und gibt Anstöße zu neuen strategischen Bündnissen zwischen Content-Anbietern, den Produzenten von Formaten und Anwendungen und Netz-Providern. Die Verbindung des immer mehr zu einem Multimedia-Konzern mutierenden Software-Giganten Microsoft mit den Fernsehsendern NBC und ZDF sind lebendige Beispiele für diese Tendenz

Soviel zur Produzentenseite der Entwicklung. Wenn wir uns der Benutzerseite zuwenden, dann stoßen wir auf ein in meinen Augen zentrales Thema zeitgemäßer Kulturpolitik.

Die Kulturpolitik wird sich ebenso wie die Wirtschaftspolitik die Frage stellen müssen, ob sie die Beteiligung der Bürger an den neuen Netzen mit allen ihren Konsequenzen fördern will (durch Schaffung generell freier Zugänge für Einzelpersonen), um die Anzahl der Chancen und Wahlmöglichkeiten für die Bürger in Bezug auf ihr kulturelles und ihr wirtschaftliches Handeln zu vergrößern. Wenn die strukturelle Arbeitslosigkeit nur durch mehr Eigeninitiative aufgefangen werden kann, dann ist das Computernetz einer der geeigneten Orte, an dem sich diese Eigeninitiative entfalten könnte. Von der Jobbörse über Weiterbildungsangebote bis zur Telearbeit bietet das Netz viele neue Informations- und Handlungsmöglichkeiten. Die Schwellen, die den Zugang zu kulturellen oder berufsverwertbaren Anregungen in den Netzen behindern (z. B. PC-Anschaffung, Erwerb grundlegender Computerkenntnisse) , sollten möglichst nicht durch zusätzliche Abgaben an Provider und andere Steuereinnehmer erhöht werden.

Das in Bayern und teilweise auch in Nordrhein-Westfalen beschlossene und erprobte Modell von Bürgervereinen, die als Verbund regionaler und lokaler Einrichtungen Privatpersonen und kleinen Unternehmen solche freien Zugänge geschaffen haben, könnte ein Modell auch für kulturpolitisches Handeln sein. Nur der vernetzte Bürger kann aktiver Nutznießer der auf breiter Basis entstehenden weltweiten Informations- und Kulturangebote sein. Ebenso wichtig ist aber auch der regionale oder lokale Aspekt des Netzes: Der Erfolg von kommerziellen und kulturellen Initiativen in den Netzen setzt die unmittelbare Einbeziehung von Anbietern und Klienten gleichermaßen voraus. Die neuen Netze sind ein Modellfall für die These, daß Kulturpolitik auch Wirtschaftsförderung sei: Ist der kulturell motivierte Bürger aktiver Netzteilnehmer, dann ist er es auch als Wirtschaftssubjekt.

In diesem Zusammenhang möchte ich eine Bemerkung über eine auf den ersten Blick schätzenswerte Initiative machen: die Aktion Schulen ans Netz. Das Ziel einer solchen Aktion ist klar: Schüler sollen so früh wie möglich, auch ohne materielle Belastungen für ihre Eltern, Medienkomptenz erwerben, d. h. konkret: im Internet recherchieren, über das Internet Kontakte aufnehmen und pflegen und somit die Praktiken, die im künftigen Berufsalltag vieler Menschen zu Normalfall werden (und es zum Teil ja schon sind), in den normalen Unterricht integrieren. Schon vor etwa zwei Jahren berichtete der SPIEGEL über die Initiative einiger Hamburger Lehrer, deren Klasse intensive Kontakte mit einer Klasse an einer kalifornischen Schule pflegte; es gab im Internet das Projekt einer gemeinsamen elektronischen Zeitung usw. - Nichts davon leistet und ermöglicht die Aktion Schulen ans Netz. Sie bringt nämlich keineswegs Internet-PC in die deutschen Klassenzimmer (wie es gleichzeitige amerikanische und japanische Initiativen tun), sondern tatsächlich nur je einen Internet-PC an eine Schule. Der wird dann in einem Freizeitbereich oder in der Schülerbibliothek aufgestellt und von einigen schon erfahrenen Internet-Enthusiasten zum Surfen benutzt - von einer Integration des neuen Mediums Internet in den Unterrichtsalltag und einer tatsächlichen Förderung der Medienkompetenz kann unter diesen Umständen nicht die Rede sein. Das vernetzte Klassenzimmer müßte zum Leitbild der kulturpolitischen und medienpädagogischen Diskussion werden.

Dennoch darf nicht übersehen werden, daß es in Bezug auf die Medienkompetenz das bekannte Drei-Generationen-Problem gibt: Die Schüler wissen mehr als ihre Lehrer (kein Wunder, die sind oft bereits in der Großelterngeneration), die Eltern dieser Schüler wissen mehr als die Professoren ...

Vernetzung und Globalisierung

Die im Internet hergestellte Vernetzung bietet weltweit und ungehindert die Möglichkeit der Darstellung regionaler, lokaler und individueller Interessen und des Austauschs darüber. Die Komplexität der ins Internet strömenden Angebote und Anliegen läßt sich von Menschen schon längst nicht mehr überschauen ­ für eine Gliederung und Durchsiebung des Materials müssen sogenannte Suchmaschinen eingesetzt werden, die zu jedem beliebigen Thema oder Namen fündig werden und ein manchmal schon wieder kaum überschaubares und dazu hochredundantes Paket an Funden abliefern.

Die Vernetzung via Internet schützt die Individualität der Interessen und die Komplexität menschlicher Standpunkte und Bestrebungen. Sie ist insofern ein Schutz gegen jegliche Tendenz zur Pauschalisierung (ein Risiko der Globalisierung in kultureller Hinsicht) und zur Anonymisierung.

Seltsamerweise gibt es in Deutschland eine Spielart der pädagogisch-humanistischen Zivilisationskritik, die gleichzeitig die Komplexität und die Anonymisierung bejammert. Diesen Menschen ist nicht zu helfen. Die Komplexität des Lebens wie auch der medialen Formen und Spielarten ist unvermeidbar und unabschaffbar. Die Klage über die Unüberschaubarkeit und damit nach dem Sinn vieler Angebote läßt dieTechnik kalt, wie die Technik eben ist. Weil es technisch möglich sein wird, daß 200 Spartenprogramme auf den häuslichen Fernsehbildschirmen flimmern, werden auch 200 Spartenprogramme dort erscheinen, und wir werden irgendwie mit ihnen umgehen. Wer seine Zeit damit verschwenden möchte, über die Unüberschaubarkeit zu klagen, anstatt Strategien der persönlichen und sozialen Nutzung von medialen Angeboten zu entwickeln, versäumt eine Verfeinerung seiner Bildungs- und Genußmöglichkeiten. Die bei Kulturredakteuren zur Zeit modische Attitüde, den Wechsel der Schreibgewohnheiten (vom Füllfederhalter oder Bleistift zum Laptop) als Ende des Humanismus zu geißeln, ist nicht zuletzt deshalb so peinlich, weil ja gerade der Humanismus ohne seine medientechnische Grundlage, das Typographeum und die vollständige Maschinisierung des Schreibens, nicht vorstellbar ist.

Die Vernetzung kann auf der politischen Ebene den Funktionsverlust einzelstaatlicher Institutionen und der Rituale der repräsentativen Demokratie nicht aufhalten, sie kann aber durch die Ermöglichung von Teilnahme und Mitsprache an Meinungsbildungs- und Regelungsprozessen neue interaktive Akzente setzen. Das Internet erzeugt neue Ansätze direkter Demokratie, überall stehen virtuelle Seifenkisten, von denen herab Meinungen und Stellungnahmen hageln, und es ist wirklich interessant zu beobachten, wie sperrig und unbeholfen gerade die offiziellen politischen Institutionen sich gegenüber diesem direkten Kontakt mit ihren Wählern, gegenüber diesem jederzeit möglichen Bad in der virtuellen Menge verhalten.

Unternehmen, besonders solche der Konsumgüterindustrie, sind da vielfach schon einige Schritte weiter. Sie errichten im Internet Foren und Marktplätze, auf denen nicht ständig der Hut herumgeht (nur bei der Telekom ticken die ganze Zeit über die Zähler), sondern der pure Spaß an der Interaktion die Szene bestimmt. Spiele, Schwatzrunden und thematische schwarze Bretter erzeugen einen Zulauf, der meist eine viel intensivere Form der Kontaktaufnahme ergibt als der im Tausenderkontaktpreis der Printwerbung definierte.

Als Marktplatz bewährt sich das Internet zunächst (noch) gar nicht so sehr als Ort des Zahlungstransfers für Waren, sondern als Ort des Austauschs über Qualitäten. Wer sich auf den Foren der Computerunternehmen einmal umsieht, hat keine Sorge mehr, daß die Globalisierung etwa die Anliegen des Verbraucherschutzes überrollen könnte. Das Internet ist eine globale Verbraucherschutzorganisation, die nicht nur die Regeln der Wandlung, Minderung und Gewährleistung einklagt, sondern durch millionenfache konkrete Hilfestellung unmittelbaren praktischen Nutzen schafft.

Netze und Vernetzung

Abschließend eine Bemerkung zu einem sich aktuell und besonders in der Diskussion um neue, multimediale und vernetzte Formen des Lernens und Arbeitens entwickelnden Mißverständnis.

Ein Computernetz vernetzt Computer, die mit Mensch-Maschine-Schnittstellen ausgestattet sein können. Der Informationsfluß in Computernetzen ist durch die Netztopologie und die Konfiguration solcher Schnitstellen definiert. Diese technische Konfiguration bestimmt auch die Arbeitsbeziehungen oder die Lernprozesse, die durch ein Computernetz ermöglicht werden. Die Annahme, durch die Vernetzung qualitative Prozesse, wie sie in der Idee sozialer Netzwerke oder des sokratischen Dialogs formuliert sind, ingangsetzen zu können, ist eine Illusion.

Vernetzte Rechenvorgänge in Computernetzen und vernetztes Denken in sozialen Netzwerken haben konzeptionell und hinsichtlich ihrer Funktionsweise wenig miteinander zu tun. Der Inhalt der Computernetze ist Information, der Inhalt sozialer Netzwerke Kognition. Die Produktivität bestehender sozialer Netzwerke kann durch Computernetze selbstverständlich gefördert werden, wobei jedoch zu erwarten ist, daß sich der Inhalt der Kommunikation durch den Einsatz des technischen Mediums verändert. Die technischen Medien arbeiten an unseren Gedanken und Einsichten mit - eine Einsicht, die Nietzsche durch den Umgang mit seiner Schreibmaschine gewann. Mit dieser unvermeidlichen Erscheinung der kulturellen Evolution sollten sich auch soziale Netzwerke bewußt auseinandersetzen.

Die begriffliche Scheidung von Netz und Netzwerk, wie ich sie hier vorgenommen habe, könnte dabei hilfreich sein.