Memopolis

Memopolis

Das Internet als Ort der Kunst

Hermann Rotermund

Kann es Kunst im Internet geben?

Auf diese, wie sich gleich erweisen wird, nur auf den ersten Blick provokante oder redundante Frage drei kurzgefaßte Antworten:

"Medienkunst"

Die elektronischen Medien haben sich aller früheren Medien bemächtigt und erzeugen durch ihre Interaktionen und ihren Datenfluß die Wirklichkeit, in der wir heute leben müssen. Was Menschen über die Welt wußten, haben sie von je her durch Medien vermittelt bekommen: über die organisierte Rede des Orators, der Theater, der Ratsversammlungen; über schriftliche Zeugnisse von den Keil- und Bilderschriften bis zum gedruckten Buch; über Kommunikationskanäle wie Boten, Post, Telegraphie. Das Neue an den neuen Medien ist vielleicht nur die auffällige Universalität ihres Netzes und die Geschwindigkeit, in der die technische Kommunikation einen response erzeugt. Unser Planet, unsere sozialen Beziehungen und unser physischer Körper sind durch Technologien besetzt. Diese Voraussetzungen sind nicht hintergehbar. "Es gibt keinen blinden Fleck mehr", stellt Paul Virilio fest. "Aber wovon sollen wir träumen, wenn alles sichtbar wird? (...) Wir werden davon träumen, blind zu sein."[1]

Außerhalb des universalen Netzes der technischen Medien ist eine zeitgenössische künstlerische Produktion nicht mehr denkbar. Die Kunst kann sich nicht aus einer Wirklichkeit ausklinken, die unserer Wahrnehmung im wesentlichen durch die von Menschenhand geschaffenen Medien vermittelt wird. Diese Medien arbeiten jederzeit an unseren Gedanken und Empfindungen mit. Das geschieht in der Kunst sogar sehr vordergründig: In die Diskussionen von Künstlern und Philosophen fließen spätestens seit Mitte der achtziger Jahre Zentralbegriffe aus der technischen Medienwelt: Digitalisieren, Speichern, Löschen, Interaktion und Interface.

Die durch die elektronischen Medien und die Datenverarbeitung erzeugte Künstlichkeit setzt sich an die Stelle der traditionellen Kunst, ohne diese vorerst völlig zu verdrängen. Eine Medienkunst, die sich auf die vorhandenen technischen Bedingungen nicht nur oberflächlich einläßt, könnte ebenso überraschen und erstaunen wie ein Bild von Velásquez oder Magritte ihr zeitgenössisches Publikum. Diese ars electronica ist aber noch nicht entstanden. Sie könnte die innerhalb der gültigen Kombinationslogik unwahrscheinlichsten Verknüpfungen herstellen und damit dem universalen Wissensspeicher eine zweite Darstellungsebene anfügen, ein Arsenal der ästhetischen Effekte. Unter den vielen Kunstprojekten im Internet sind allerdings zur Zeit nur wenige auf der Höhe des Mediums - vgl. die Dokumentionen der Linzer ars electronica und die Schwerpunkthefte der Zeitschrift Kunstforum.  

Die Aktivität der technischen Medien: Interaktivität

Die Einsicht in den technischen Charakter der Voraussetzungen für die heutige Kunst muß noch einen Schritt weiter geführt werden. Es geht gar nicht darum, daß die moderne Technik an die Stelle der Kunst tritt. Auch die frühere Kunst basierte auf Technik. Zu fragen ist vielmehr: An die Stelle welcher Techniken tritt die Datenverarbeitung eigentlich?

Aufzeichnung, Speicherung und Übermittlung von Daten sind die wesentlichen Prozesse, die von technischen Medien bewältigt werden. Jeder dieser Vorgänge hat seine Vorgeschichte in anderen Medien. Aber erst die durch konfliktreiche Entwicklungen in den Naturwissenschaften vorweggenommene tatsächliche technische Aufhebung und Ablösung (Digitalisierung) der menschlichen Sinnesleistungen annihiliert auch die bislang sorgsam gehüteten Grenzen zwischen den Gattungen der menschlichen Verstandestätigkeit und der künstlerischen Kreativität.

Die Folgen wurden schon oft beschrieben, wenn auch selten ganz verstanden. Eine Folge ist: Die Aufzeichnungen der technischen Medien können von Menschen nicht mehr unmittelbar gelesen werden. Ein Programmierer, der das von ihm geschriebene Programm so vorgelegt bekäme, wie die Maschine es liest, würde es nicht mehr erkennen. Technische Medien kommunizieren ihre Informationen nicht direkt mit uns, sondern nur über ein "Interface". Eine Mensch-Maschine-Kommunikation gelingt dann, wenn ein Mensch eine bereits existierende technische Realisation adäquat nachvollzieht. Computer beenden konsequent unsere Vorstellungen über die Natur von Einfällen, Erfindungen oder "Geistesblitzen". Sie erweisen sich als leistungsfähige Produzenten von "Einfällen", indem sie Vorhandenes kombinieren und schnelle Verknüpfungen herstellen. Sie modulieren dabei auch die Haltungen ihrer Benutzer: Die stille Freude an der kontemplativen Betrachtung wendet sich in den puren Spaß am Mit-Machen.

Computer bieten einen Handlungsraum, an dem die Beteiligung von Menschen möglich (jedoch nicht notwendig) ist. Mit Begriffen wie Kreativität, Aktivität und Dialogfähigkeit pflegten Künstler vermutlich voller Selbstillusionen ihren Handlungsraum abzustecken. Für den Handlungsraum des Computers gelten statt dessen die Leistungsmerkmale Kombinatorik, Reaktivität und Interaktivität. So ist es nur auf den ersten Blick erstaunlich, daß Künstler und vor allem Kunst-Theoretiker und -Publizisten seit Beginn ihres Kontaktes zur Video- und Computertechnik das Hohelied der Interaktivität (und des "dynamischen Chaos") singen.[2] Mit Spielzeugen, die Wahlmöglichkeiten zwischen verschiedenen programmierten Abläufen nach dem simplen Prinzip des multiple choice bieten, erzeugen viele Technokunst-Installationen allerdings eher Langeweile. Interaktives 3D-Kino, installiert auf einem interkommunikativen, hypernarrativen Server[3], das ist die Substitution der Einbildungskraft durch einfältige Bilder und entropisches Geschwätz.

Internet-Alltag

Neue Medien sind Gastgeber der alten. McLuhan beschrieb das so: "Der Inhalt der Presse ist eine literarische Aussage, so wie der Inhalt des Buches die Sprache ist, und der Inhalt des Films ist der Roman."[4] Vorstellbar sind also eine ausgedehnte Kooperation und wechselseitige Verweise der neuen und der traditionellen Künste aufeinander. Das ist momentan tatsächlich die wichtigste Funktion des Internet für die Kunst.

In den Präsentationen und Diskussionen der Web-Künstler gibt es eine quantitativ bereits unübersehbare Menge von Positionen und Darstellungen. Da prinzipiell alle Künste und ihre Diskurse im Internet vertreten sind, kann sich jeder Benutzer an der Erörterung jeder einzelnen Fragestellung beteiligen. Man gebe nur einmal in einer "Suchmaschine" wie http://www.lycos.com als Suchbegriff "Beethoven" oder "Warhol" ein, um einen Eindruck vom Umfang des im Netz vorhandenen Materials und der laufenden Diskussionen zu gewinnen.

Die eigentliche Leistung des World Wide Web (nicht zufällig eine Entwicklung des Spitzentechnologie-Forschungsinstituts CERN) liegt aber nicht in der Erzeugung von Entropie - die uns ohnehin umgibt -, sondern in der Ermöglichung von Spezialisierung. Das WWW stellt eine Reihe brauchbarer und präziser Such- und Auswahlwerkzeuge zur Verfügung, die das Auffinden von Details, das "Hineinbohren" in eine spezielle Sache und das immer wieder neue Wenden von Fragen ermöglichen. Beides also - das reichhaltige Material und der spezialisierte Zugriff - nützt dem Kunstinteressierten im alltäglichen Umgang mit dem Internet.

Gedächtniskunst

"Denken Sie immer daran, mich zu vergessen", so lautet die Inschrift auf einem Grabstein. Der Grabstein ist kein Grabstein, sondern eine künstlerische Installation von Timm Ulrichs aus dem Jahre 1969. Sie könnte das Motto für eine seit 1995 im Aufbau befindliche, verzweigte Internet-Installation einer Regensburger Gruppe sein. Das Projekt heißt Memopolis und bietet unter anderem die Mitgliedschaft in einer "Erinnerungsgemeinschaft" an. Wer sich in Memopolis textlich, bildlich oder lautlich verewigen möchte, kann dort seine Homepage für die Ewigkeit ablegen.

Den Zugang zu den einzelnen Sektoren von Memopolis erhält man über eine eindrucksvolle Intro-Seite. [Abb. 1.] Das Bild dieser Leitbildseite stammt aus einer illuminierten Handschrift um 1500. Die Initiatoren halten es nicht zuletzt deswegen für bemerkenswert, weil es wie ein lange zurückliegender Vorgriff auf die Benutzeroberflächen heutiger Computerbildschirme ("Windowstechnik") wirkt. Drei Totenköpfe wurden in die Ampelfarben Rot-Gelb-Grün umgefärbt und zu Druckknöpfen umgestaltet. Über den roten K(n)opf gelangt man zu Informationen. Diese verteilen sich über drei Pfade mit entsprechend vorangestellten Leitbildern: Ideenhimmel, Verwandtes und Kuriosa. Gelb bezeichnet die eigentliche Erinnerungsgemeinschaft, Grün umfaßt die philosophischen, literarischen und wissenschaftlichen Umgangsformen mit dem Tod.

Die Aufmerksamkeit wird beispielsweise auf die Bestattungskultur gelenkt, besonders schöne und merk-würdige Friedhöfe werden mit Fotos und Textbeiträgen vorgestellt, wie der Campo Santo Teutonico, eine deutsche Enklave zwischen der Basilika St. Peter und der Audienzhalle des Vatikans. Ein langer, bebilderter Textbeitrag[5] liefert schließlich den Schlüssel für das Memopolis-Projekt. In ihm ist die Gründungslegende der abendländischen Mnemotechnik erwähnt, die der Kulturwissenschaftler Jan Assmann die "Urszene" der Gedächtniskunst nennt.[6]

Der Dichter Simonides, so berichtet Cicero in De Oratore, habe durch einen glücklichen Umstand als einziger dem Zusammenbruch einer Festhalle überlebt, bei dem alle Festteilnehmer erschlagen und zur Unkenntlichkeit entstellt wurden. Der Dichter sei imstande gewesen, die Leichen zu identifizieren, weil er sich während des Mahles die Sitzordnung eingeprägt habe. Der Erinnerungskünstler konnte die Erinnerungsdaten in einem (imaginären) Raum anordnen und mit diesem Raumbild zusammen abrufen.

Um die Erinnerung an die Toten wachzuhalten, also etwas Imaginäres, Immaterielles, bedurfte es materieller Artefakte, die seit Jahrtausenden mit größten Anstrengungen hergestellt und gepflegt werden - von den Pyramiden bis zu schlachtfeldgroßen Soldatenfriedhöfen. Im digitalen Zeitalter erübrigen sich diese Bemühungen. Durch den Computer reduziert sich das materielle Substrat für die Speicherung von Immateriellem letztlich auf eine Serie von Ladungszuständen, die auf verschiedene Weise verlustfrei aufrechterhalten werden können. Die Erinnerungsdaten bekommen so den Status der Unvergänglichkeit.

Der Beitrag Kaufers schließt mit den Worten "Amen. Von Ewigkeit zu Ewigkeit" und bietet dann die Abspielmöglichkeit für das Stabat Mater von Gioacchino Rossini (1792-1868): "10. Finale. Allegro - Andantino moderato Amen. In sempiterna saecula. [5'53]".

Memopolis ist gleichzeitig ein Beispiel moderner Konzeptkunst und ein Beitrag zur theoretischen Reflexion über Begriff und Medien der Erinnerung. Unabhängig von der Lebenszeit dieses Anfang 1996 noch unfertigen Projekts und der Qualität der einzelnen Beiträge versinnbildlicht es, was Medientheoretiker meist nur (im Medium des Gutenberg-Zeitalters) in dürren Worten niederschreiben: Das Medium Computer eignet sich Inhalte der alten Medien an und ersetzt dabei Materielles durch Immaterielles. Die Gedächtniskunst, die von der Antike bis zu Leibniz' Bereitstellung des Instrumentariums für ein universales Aufzeichnungssystem ohne Konkurrenz war und eine Technik zum Ausgleich menschlicher Schwäche darstellte, wird nun vollends externalisiert. An die Stelle der analogen imaginären Bilder treten die universal anschreibbaren Adressen des weltumspannenden Computernetzes, URL genannt, Uniform Resource Locators. So macht das Projekt die sonst geheime Verknüpfung von Medien und Tod überaus sichtbar: Die technischen Medien bewirken, daß die Menschheit in Datensammlungen resultiert, gespeichert an einer unübersehbaren Anzahl von URL.

Virtuelle Galerien

Die bei weitem häufigste Erscheinungsform künstlerischer (Im)materialien im Internet ist die virtuelle Galerie, also die Ausstellung von Bildern, die Kunstwerke zeigen. Das kann die werbende Präsentation einer Galerie sein, die einige Highlights aus einer laufenden Ausstellung zeigt, es kann ein Katalog oder sogar ein Werkverzeichnis sein. Am Ende des Beitrags sind die wichtigsten Adressen genannt, über die sich künstlerische Beiträge im Netz schnell erschließen lassen.

Eine der ältesten Einrichtungen im World Wide Web ist der Web Louvre, der inzwischen seinen Namen in Web Museum Paris geändert hat (weitere Orte können sich zuordnen). Dort werden hunderte von Meisterwerken der Neuzeit gezeigt. Viele Informationen erhalten die Benutzer nicht; sie können sich zu den Bildern selbst durchklicken und diese auf dem Bildschirm betrachten bzw. speichern.  

Ein Wort vielleicht zur Qualität der Abbildungen auf dem Monitor. Der Computermonitor bietet in den meisten Fällen eine Auflösung von 72 dpi (Punkte pro Zoll). Die verbreitete Software für WWW-Reisende kennt nur zwei Dateiformate für Bilder - GIF und JPEG - und läßt aus Gründen der Dateigröße eine Darstellung von nur 256 Farben zu. Sie ermöglicht damit die Abbildung einigermaßen genauer Linien und Konturen, liefert aber meist falsche Farben und gerasterte Flächen. Der Ausdruck von Bildschirmbildern - die Abbildungen dieses Buchs sind ein Beispiel - ist nur bei extremer Verkleinerung unter Verzicht auf Farbe sinnvoll, wenn überhaupt. Ein großformatiges Gemälde von Breughel d. Ä. kommt in einem gut gedruckten Bildband besser zur Geltung als auf dem Bildschirm (der vielleicht noch gerollt werden muß, um das Bild komplett darstellen zu können).

Dennoch: Bildband und Abbildung im Netz sind gleichberechtigt als Repräsentationen des Originals in anderen Medien. Wer nicht ins Rijksmuseum nach Amsterdam fahren möchte, kann sich mit solchen Repräsentationen behelfen. Für Künstler und Galerien eröffnen sich durch das Netz weitere Möglichkeiten: Sie können Kunstwerke oder eine Ausstellung ohne hohe Druckkosten für Kataloge und Prospekte einem unabsehbaren Publikum bekanntmachen. Entscheidend für die Nutzung virtueller Galerien ist nur die Verbreitung von Internet-Anschlüssen. Für Baselitz oder Kiefer ist die Netzpräsenz ein selbstverständliches Statusattribut - nach ihnen wird man auf allen Kontinenten in den Suchmaschinen des Netzes Ausschau halten. Ein unbekannter Künstler aus Münster wird seine Werke vielleicht nur versehentlich auf die Bildschirme von übernächtigten Web-Surfern zaubern, die die Betrachtung der Abbildung schon mitten im Bildaufbau auf dem Monitor unterbrechen und gleich weiterhüpfen, um sich die neueste Folge von Video Girl Ai anzusehen, in der animierten Version.

Das Metropolitan Museum New York bietet eine traditionelle, an die elektronischen Kiosk-Systeme zur Tourismus-Information erinnernde, aber sehr anschauliche Präsentation seiner aktuellen Ausstellung - oder zumindest doch eines Teils davon. Dem Interessenten werden Stockwerke des Gebäudes im Grundriß gezeigt; den einzelnen, durch Buchstaben gekennzeichneten Räumen sind Texterläuterungen beigefügt. Durch einen Mausklick auf eine Stelle des Grundrisses wird der virtuelle Museumsbesucher in den entsprechenden Raum geführt, vertreten durch eine Liste, auf der die ausgestellten Bilder mit Titel und allen technischen Angaben aufgeführt sind. Ein weiterer Mausklick bewirkt die Darstellung eines einzelnen Bildes, wobei im Format auf die Benutzer von langsamen Modems und kleinformatiger Monitore keine Rücksicht genommen wird. Die Resultate können sich - im Rahmen der bereits erwähnten Einschränkungen - sehen lassen: Hunderte von Gemälden können detailgenau betrachtet werden.  

Elektronische Kunst

Die Exponate virtueller Galerien müssen meist noch eigens einem Medientransfer unterworfen und digitalisiert werden, um in den weltweiten Datenstrom des Internet eintauchen zu können. Bei den Erzeugnissen elektronischer Kunst handelt es sich in den meisten Fällen um bereits digital bearbeitete Produkte, auch wenn sie (wie Videos) überwiegend noch analog gespeichert und abgespielt werden. Die Analog-Digital-Wandlung ist jedoch bereits das Alltagsgeschäft hunderttausender Gerätschaften und der an ihnen tätigen Personen.

Digitale Bilder, Animationen, Filme und Töne sind an vielen Stellen im Netz abrufbar. Animationen und Filme lassen sich aufgrund der niedrigen Übertragungsgeschwindigkeit nicht unmittelbar abspielen, sondern müssen erst auf den eigenen (lokalen) Rechner übertragen werden, was ein zeitraubendes Geschäft sein kann. Die vieldiskutierten Kompressionstechniken helfen nicht viel weiter, die Verluste wären zu einschneidend, wollte man bei den derzeitigen Übertragungsraten Echtzeitwirkungen erzielen. Das ist am ehesten auf dem reinen Audiosektor vorstellbar, vor allem dann, wenn es um die Übertragung von Sprache und nicht von Musik geht. Der Internet-"Radio"-Standard RealAudio ist in dieser Hinsicht wegweisend (siehe http://www.realaudio.com/).

Die digitale Produktion von Comics ist zumindest in Japan bereits zum Standard geworden. Im Internet gibt es sehr viele Beispiele für die in mehreren Medien (Hefte bzw. Bücher und TV) verbreiteten Serien. Häufig werden zwei Versionen angeboten: Einzelzeichnungen und Animationen. Die Animationen sollten nur bei schnellen und stabilen Verbindungen geladen werden. Ein Beispiel: Video Girl Ai, http://server.berkeley.edu/anime/VGAi/manga.html.

Interaktive Kunst

Interaktivität ist die Dialogform des technischen Mediums. In der Kunst sind seit Beginn der achtziger Jahre interaktive "Installationen" verbreitet, teilweise außerhalb der elektronischen Medien, als ihr mehr oder weniger unbewußter Reflex, teilweise im Bereich der Video- oder Computerkunst angesiedelt. Die "Benutzereingaben" bestanden manchmal nur in purer Anwesenheit, das Material konnte eine Ansammlung von hängenden Papierstreifen oder eine komplexe elektroakustische Anlage sein, der "Quantensprung" in die künstlerische Wirkung fand unmittelbar statt.

Interaktive künstlerische Aktionen im Internet haben ein vielfältiges Aussehen. Das Zensurarchiv (The File Room) von Antonio Muntadas, die Digitale Stad Amsterdam von Geert Lovink und das erwähnte Memopolis bieten in kaum nachvollziehbarer Verzweigung Archive und Aktionsfelder an. Viele andere Installationen arbeiten nach dem Prinzip des multiple choice oder mit den Charakteristika des Hypertext, dem unmittelbar aktivierbaren Querverweis. So gab und gibt es die Wiederaufnahme von avantgardistischen Experimenten im neuen Gewand, beispielsweise kollektive poetische Texte, die untereinander Beziehungen aufnehmen und anders als über den Querverweis nicht aufschlüsselbar sind (Beispiel: http://www.eastgate.com/~malloy/).

Interessant, wenn auch ebenfalls keine neue Idee, ist die künstlerische Kettenbrief-Aktion, die bei http://ziris.syr.edu/ChainReaction/public_html/chainReaction.html aufgefunden werden kann: Beliebig viele an der Aktion teilnehmende Künstler luden sich eins der dort gesammelten Bilder, verändern es auf dem eigenen Computer und sandten es wieder an die Sammelstelle zurück. Jedes Bild war zugleich Resultat und Ausgangspunkt der elektronischen Bearbeitung und ist durch seine eigene Bearbeitungs- und Transfergeschichte ein Symbol für die Vernetzung. Die Darstellung der tatsächlichen Datenströme durch die Topologie des Netzes, die den beteiligten Rechnern ja bekannt ist, wäre eine passende Zutat zu diesem Projekt - und ohnehin die Rationale seiner imaginativen Kraft.

Multimediale Installationen

Alle Medien in einem: Text, Graphik, Bild, Animation, Film, Video, Klang, Skulptur ... - hier käme das Computernetz als Hypermedium auf seinen Begriff. Ted Nelson, Mitte der sechziger Jahre der Begründer des Hypertext-Konzepts, hat dieses Supermedium, in dem alle Unterschiede zwischen den kulturtechnischen und künstlerischen Gattungen aufgehoben sind zugunsten eines neuen "Dokument"-Begriffs, in seinem Xanadu-Projekt zu realisieren versucht. Das ist ihm bislang nicht gelungen. Interessant an seiner Idee ist das spezielle Übernahmeverfahren von Elementen in ein neues Ganzes, das Nelson transclusion nennt: Alle Elemente der neuartigen Dokumente und alle Spuren ihrer Übermittlung bleiben erhalten, so daß der Weg des neuen Wissens absolut nachvollziehbar ist. Die Anhäufung neuen geistigen Eigentums wird dadurch auch abrechnungsfähig; die "transcludierten" Elemente haben eine quasi eingewebte Copyright-Marke.

Aus den schon behandelten, überwiegend übertragungstechnischen Gründen, gibt es nur wenige Beispiele für den Versuch einer punktuellen Integration aller heute gebräuchlichen Medien.

Häufiger anzutreffen sind Medienmix-Installationen. "Piazza Virtuale", Bestandteil der documenta IX (1993) war ein hundert Tage währender ehrgeiziger Medienmix aus Live-TV über Satellit, Telefon (als Sprachübermittlungsgerät und als Steuerungsgerät für TV-Aktionen), Btx, Videofon und Fax. Das Programm der Veranstaltung und die über diese Mischform anstellbaren Reflexionen waren noch erträglich, der Rest war eine Attacke auf die Geduld und den guten Willen von Fernsehzuschauern, die sich nach zwei Stunden "Piazza Virtuale" sicher wieder mit der vertrauten "monologartigen Struktur" des TV angefreundet haben.

Viele Mediamix-Veranstaltungen zielen auf die Wiedererringung der Entscheidungsfreiheit einzelner durch Interaktion und Zwei-Wege-Kommunikation und verstehen sich als kritisch, avantgardistisch oder progressiv. Ihre Veranstalter wollen die weltweite egalitäre Kommunikation ihrer Gerätschaften kostenfrei benutzen, um "neue Interfaceformen zwischen Menschen, Tieren, Pflanzen und Robotern" aufzubauen.[7] Der weltweit gratis telefonierende und Nintendo spielende Bioroboter als Sinnbild einer befreiten Gesellschaft: Deutlicher läßt sich die Mitwirkung der Medien an unseren Gedanken kaum zum Ausdruck bringen.

Kunst im Internet: Einstiegsadressen

Neben den allgemeinen "Suchmaschinen" für das World Wide Web, wie http://lycos.com/, die bei der Suche nach einem bestimmten Künstler oder einem bestimmten Schlagwort behilflich sind, erleichtern vor allem folgende "Spezialisten" den Zutritt ins Reich der vernetzten Kunst:

PAN Island:

http://www.svi.org/PROJECTS/PAN/ISLND/arts.html

World Wide Art Resources:

http://www.concourse.com/wwar/default.html

Metropolitan Museum:

http://www.metmuseum.org/htmlfile/opening/enter.html

Web Museum:

http://www.emf.net/wm/paint/

Art Source:

http://www.uky.edu/Artsource/


[1] Paul Virilio, Gott, Medien, Cyberspace. Gespräch mit Louise Wilson. In: Lettre international Nr. 30, 1995, S. 38-39.

[2] Vgl. Gerhard Johann Lischka und Peter Weibel, Polylog. Für eine interaktive Kunst. In: Kunstforum Bd. 103, 1989, S. 65-86.

[3] Vgl. MaxWeb-Projekt, @: http://bug.village.virginia.edu.

[4] Marshall McLuhan, Die magischen Kanäle. Understanding Media. Dresden 1994, S. 349.

[5] Raoul Kaufer, MEMOPOLIS. Diesseits des Todes: computergestützte Verewigung und Erinnerung. @: http://rsls8.sprachlit.uni-regensburg.de/~c3055/MEMOPOLIS/vortrag1.html

[6] Vgl. Jan Assmann, Die Katastrophe des Vergessens. Das Deuteronomium als Paradigma kultureller Mnemotechnik. In: Aleida Assmann, Dietrich Harth (Hrsg.), Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung. Frankfurt am Main 1991, S. 337.

[7]Eduardo Kac, Interaktive Kunst im Internet. In: Karl Gerbel und Peter Weibel (Hrsg.), Mythos Information. Welcome tho the Wired World. @rs electronica 95. Wien, New York 1995, S. 178. >