eBooks und ihr Markt
Statement auf dem Kulturwirtschaftstag NRW in Paderborn, 15.11.2000
Von Hermann Rotermund
Nachdem Sie heute schon mit Prognosen und Behauptungen zur Zukunft des Buchs konfrontiert wurden, bei denen die elektronischen Publikationen eine nicht unwesentliche Rolle spielten, möchte ich Ihnen zunächst berichten, welche Erfahrungen ich selbst - als Juror des ersten International eBook Award vom Sommer bis zur Buchmesse 2000 - mit eBooks gemacht habe. Anschließend möchte ich einige Entwicklungslinien und Trends darstellen, die nach meiner Ansicht die Durchsetzung des eBooks beeinflussen werden.
Der von der International eBook Award Foundation - dieser Stiftung gehören vor allem Hersteller von Hard- und Software für eBooks an - im Frühjahr 2000 ausgeschriebene Wettbewerb lud Verlage zur Einreichung von eBooks ein. Es gab fünf Kategorien: fiktionale und nicht-fiktionale Literatur, jeweils gegliedert in Original-eBooks und bereits früher im Print erschienene, und technische Errungenschaften. Die fünf Kategorien wurden mit einem Preisgeld von jeweils 10.000 Dollar ausgestattet, hinzu kam der Hauptpreis für das "beste eBook" (das nur ein Original oder allenfalls ein gleichzeitig als eBook und gedrucktes Buch erschienenes Werk sein durfte) im Werte von 100.000 Dollar. Das Preisgeld - das ist kein Geheimnis - wurde von Microsoft zur Verfügung gestellt. Es gab fast 800 Einsendungen, darunter etwas über 30 deutschsprachige. Der Hauptpreis wurde von der Jury auf ein Sachbuch und einen Roman aufgeteilt.
Eine kleine Anekdote über den Preisträger E. M. Schorb, der für seinen Roman Paradise Square den Hauptpreis erhielt, erzählt gleichzeitig etwas über den Stand der eBook-Produktion im allgemeinen: Zwei Wochen vor der Frankfurter Buchmesse erhielt E. M. Schorb durch das Sekretariat der preisverleihenden Stiftung eine telefonische Einladung nach Frankfurt am Main. Sein Buch war in die engere Auswahl der Jury gekommen, und die Satzung des Wettbewerbs, die sich stark am Muster der Oskar-Preisverleihung orientiert, sieht die Teilnahme aller in die engere Wahl geratenen Autoren und Verleger zur Abschlußzeremonie vor - die während der Frankfurter Buchmesse in der dortigen Alten Oper stattfand. E. M. Schorb wußte mit der Einladung nichts anzufangen, da ihm der Begriff "eBook" nichts sagte. Erst recht nicht bekannt war ihm, daß er selbst ein eBook verfaßt hatte. Er hatte seinem Verlag (Denlinger's Publishers) Monate zuvor seinen fertigen Roman geschickt und wartete auf dessen Erscheinen. Der Verlag hatte den Roman ohne sein Wissen zu dem Wettbewerb eingereicht. In Frankfurt, am Vorabend der Preisverleihung, sah Schorb dann zum ersten Male ein elektronisches Lesegerät, in dem man auch sein Buch lesen konnte.
Es gibt eine Reihe von Strategien, die mit der Vermarktung von eBooks oder - allgemeiner - elektronischen Publikationen verbunden sind. Eine davon wurde von Schorbs Verlag praktiziert: das ePublishing ist ein preiswerter Markttest für Publikationen, die letztlich für den traditionellen Buchmarkt vorgesehen sind. Eine Variante davon hat Stephen King vorgeführt, der unter Umgehung eines Verlages direkt mit dem Publikum Geschäfte trieb. Hervorzuheben ist, daß Buchmanuskripte, die für den Print vorgesehen sind, natürlich keine eBook-spezifischen Eigenschaften aufweisen. Solche Eigenschaften könnten sein: Bequeme Such- und Indexfunktionen sowie Querverweise zu direkt anspringbaren Textabschnitten bei Sachtexten, aber auch nicht-linear aufgebaute, die Funktionalität der aus dem Web bekannten Hypertext-Programmierung nutzende fiktionale Textarten.
Im Internet gibt es seit einigen Jahren ernstzunehmende Bemühungen um eine eigenständige Internet-Literatur und -Ästhetik. Neben diesen exklusiv für die Nutzung und Teilnahme am PC und im Netz konzipierten Kunstformen bietet das Internet natürlich auch traditionell organisierten Lesestoff. Es ist das universelle Buch der Bücher, die Bibliothek der Bibliotheken. Dennoch findet in den meisten Fällen die Aneignung des Lesestoffs und die tatsächliche Lektüre nicht im selben Medium statt: kaum ein Mensch liest ein traditionelles Buch am Bildschirm. Warum auch? Ein gedrucktes Buch ist nutzerfreundlicher organisiert, jederzeit verfügbar, flexibler in der Handhabung und höchst ergonomisch durch die exzellente Auflösung von Schrift und Bild. Psychologische Forschungen haben ergeben, daß die Lektüre am Bildschirm ungenauer, weniger ausdauernd und weniger nachhaltig ist als die Lektüre von Zeitschriften und Büchern. Es gibt allerdings auch positive Effekte. Die Wahl- und Suchmöglichkeiten, die mit der Bildschirmlektüre verbunden sind, stärken die Entwicklung eigener Interessen und somit die Profilierung von Persönlichkeiten.
Für eBooks gelten ganz ähnliche Bedingungen wie für die Internet-Lektüre. Ganz gleich, ob die eBook-Software auf einem gängigen PC installiert ist oder auf einem speziellen buchgroßen oder handgroßen Lesegerät, bei einem Roman oder einem durchgängig geschriebenen, linearen Sachbuchtext werden die meisten Leser weiterhin viel lieber zum traditionellen Buch greifen. Es hat nicht nur die schon genannten Vorzüge, sondern ist beispielsweise auch leichter verleihbar als ein eBook, dem beim Erwerb Schutzmechanismen mitgegeben werden, die es nur auf einem bestimmten Gerät nutzbar und somit lesbar machen. Zudem stellt sich potentiellen Käufern die Frage, ob sie bereit sind, für ein eBook denselben Preis zu bezahlen wie für ein Hardcover-Buch - diese Preisgestaltung findet man zumindest in Deutschland, während in den USA der Trend auf einen Preis im Taschenbuchsegment zeigt.
Derzeit gibt es nur in wenigen Ländern der Welt Lesegeräte für eBooks, erheblich verbreiteter ist allerdings Lesesoftware für den PC (Adobe Acrobat, Microsoft Reader). In Deutschland existieren dem Vernehmen nach nur einige hundert Geräte des Rocketbooks. Die Anzahl der erhältlichen deutschsprachigen Titel ist ebenfalls noch nicht nennenswert. Diese Titel sind fast ausschließlich konvertierte traditionelle Bücher, die zum Teil schon länger auf dem Markt sind und zum Teil gleichzeitig mit der eBook-Fassung erschienen sind. Ein echter Bedarf scheint sich bislang nicht auf dem Markt zu artikulieren. Dieses Schicksal teilt das eBook mit den meisten technischen Medien, nach denen die Welt auch nicht gerufen hatte. Sie entstanden, meist durch Umwidmungen anderer, zum Beispiel militärischer Nutzungsformen, und waren da, bevor adäquate Inhalte entwickelt waren.
Es muß die Frage erlaubt sein, welche Inhalte dem eBook adäquat sind. - Eine Nebenfrage ist, welche Geräteform die ideale Umgebung für die eBook-Software bietet - der PC, das spezielle buchgroße Lesegerät oder ein universeller Taschencomputer, der viele Funktionen neben dem Lesen von Büchern anbietet. Das Verständnis des Publikums für die Sorgen der Verlage, daß kopiergeschützte Bücher auf universellen Geräten attackierbarer sind als auf speziellen Lesegeräten, scheint sich in Grenzen zu halten. Die Jury des eBook Award zeichnete als wichtigste technische Errungenschaft einen Taschencomputer aus, der sämtliche Eigenschaften eines gewöhnlichen Palmtop-Geräts mit der geschützten Datenhaltung von eBooks kombiniert. In diese Richtung scheint mir auch der Haupttrend zu gehen. Daneben sind preislich aufwendigere Lesegeräte zu erwarten, auf denen sich ganze Zeitungsseiten betrachten lassen und die sich eigenständig am Internet betreiben lassen.
Eine preiswerte Möglichkeit des "Previews" oder Markttests von Büchern, die kurz darauf in gedruckter Fassung erscheinen sollen, kann eine Funktion von eBooks sein, aber gewiß nicht ihre einzige. Sie allein wird das eBook auch nicht zu einer erfolgreichen Entwicklung machen. Im Zentrum sollten Überlegungen zu eigenständigen und einzigartigen Inhalten stehen, die das eBook vom traditionellen Buch unterscheiden und es im "Systemvergleich" besser abschneiden lassen. Hier drängen sich zunächst Bücher auf, die ihrer Natur nach keine linearen Lektüreangebote machen. Lexika und Sachbücher, die mit den Navigations- und Suchmöglichkeiten eines guten Hypertexts im Internet ausgestattet sind, sind für ihre Nutzer als eBook praktischer und wertvoller als ihre Druckfassungen. Für Kinderbücher und Lehrbücher gilt etwas Ähnliches, auch hier entsteht ein wertvoller Zusatznutzen durch interaktive Angebote, auch wenn diese auf das lokale Navigationsangebot begrenzt sind. Diese Grenze könnte natürlich jederzeit durch einen Sprungverweis ins Internet aufgehoben werden. Die Aufbereitung von Sachbüchern für die Verwendung als eBook kann auch nachträglich erfolgen und muß nicht unbedingt Teil der ursprünglichen Autorenleistung sein.
Anders sieht es bei fiktionaler Literatur aus. Hier gibt es in der typographischen Sphäre fast ausschließlich linear konzipierte Werke, die am adäquatesten und angenehmsten in Buchform gelesen werden können. Die Erzeugung digitaler Literatur, die sich ihren Lesern beispielsweise erst durch interaktive Nutzung aufschließt und die im übrigen auch nicht ausschließlich auf Textangebote beschränkt sein muß, ist über Anfänge noch nicht weit hinausgekommen. Wir können gespannt sein, welche Erscheinungsformen die digitale Literatur noch ausbilden wird, um auch als medienadäquat empfunden zu werden. In gewisser Weise ist die digitale Literatur mit der Kunstform des Radios vergleichbar, die in Deutschland erst Sprechspiel und Hörbühne, dann Hörspiel hieß und im Grunde erst 25 Jahre nach der Einführung des technischen Mediums als Kunstgattung voll ausgebildet war.
Angesichts dieser Situation ist nicht viel prophetisches Vermögen vonnöten, um eine zunächst eher sachbuchorientierte und daneben Spiel- und Lerninhalte transportierende Entwicklung des eBooks vorherzusagen. Produkte dieser Art können ohne Zweifel schon heute Leser finden. Eine Verdrängung des traditionellen Buchs durch das eBook ist auch längerfristig nicht zu erwarten. Das eBook kann durch spezielle Angebote das Buch ergänzen und wird es vermutlich nur auf speziellen Gebieten ablösen, auf denen die Vorteile des Buchs im Verhältnis zu den Hypertext-Navigationsmöglichkeiten zurücktreten.
Die Attraktivität für Leser ist die eine Seite der eBook-Entwicklung. Die andere ist die Attraktivität für Autoren und Verlage. Hier wird es darauf ankommen, daß sich verläßliche Standards durchsetzen, die für alle Marktteilnehmer überschaubar und akzeptabel sind.
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Links:
International eBook Award Foundation: http://www.iebaf.org
Beispiele für Theorie und Praxis von Hypertext-Literatur: http://www.dichtung-digital.de
Einblicke in die Welt der eBooks: http://www.bibliobits.de