Von Hermann Rotermund
Es gibt keinen geistigen Unterschied zwischen einer zerstörten Überlieferung und einer erhaltenen. Die Überlieferung muß immer wieder neu zusammengesetzt werden. Es gibt keine eindeutige und verbindliche Version einer Überlieferung, sondern soviele Versionen wie es Rekonstruktionen gibt.
„In einer mündlichen Kultur sorgte die Begrenztheit des individuellen Gedächtnisses dafür, durch Vergessen alles was nicht mehr relevant war, zu entfernen“. [1] Erinnerungsarbeit ist damit immer auch Vergessensarbeit. Das menschliche Gedächtnis reicht kapazitiv nicht aus, um das gelebte Leben und alle Verarbeitungsvorgänge eins zu eins zu speichern. Das menschliche Gedächtnis hat funktionell die Aufgabe, das aktive Leben zu unterstützen. Die Aktualisierung von Erinnerungen ist vom aktuellen Handeln nicht zu trennen.
Die digitalen Medien leisten Gedächtnisarbeit, indem sie Speicherresourcen für menschliches Wissen bereitstellen. Sie besorgen bei dieser Arbeit aber kein Vergessen, keine Selektion, keine Aufarbeitung. Das digitale Mediennetz ist ein bloß statisches Gedächtnis, das Wissen nur kumuliert und kein dynamisches Gedächtnis, das in Erinnerungsprozessen Wissen auswählt und bewertet. Ein funktionales Problem des Netzes ist nicht die Erhöhung der Speicherleistung (dies ist ausschließlich eine Frage des technischen Aufwands), sondern die Erhöhung der Selektionsmöglichkeiten.
Bei den im Internet gespeicherten Dokumenten kann niemand sicher sein, ob gerade die aktuelle Fassung eines Dokumentes aufgerufen ist. Die Information wird ubiquitär und existiert in beliebig vielen Kopien auf verschiedenen Serven, Proxies und bei Nutzern, die sich ein Dokument lokal gespeichert haben. Im Sinne des Referenzsystems und auch des kulturellen Wertesystems des Buchzeitalters wird die Information jedoch im gleichen Zuge belanglos, weil sie ihre Authentizität nicht beweisen kann.
Wer Erinnerung weitergibt, steht in der Verantwortung, Authentizität nachzuweisen. Die Erinnerung selbst ist verantwortungsneutral. Erinnertes ist nicht per se sicherer und authentischer als im Computer Gespeichertes, aber diesem fehlt ein Kontext von Verantwortung.
Eine Information im Internet kann ständig erneuert werden. Ein WWW-Dokument ist flüchtig, sein Update ist gleichzeitig sein Verfallsdatum. Informationen sind damit aktuell, aber geschichtslos. Der Weg ihrer Aufarbeitung und Veränderung wird nicht nachgezeichnet oder dokumentiert. Versuche, das WWW in allen Versionen sämtlicher in ihm publizierter Dokumente zu archivieren (wie das von der Bezeichnung an die Bibliothek von Alexandria angelehnte Alexa-Projekt [2] ) scheitern schon an der schieren Menge der Informationen und Versionen.
Digitales Speichern ist die systematische Fortsetzung des Säurefraßes, der viele Bücher zwischen 1890 und 1980 bedroht. Fehler 404 oder DNS-Fehlermeldungen verweisen auf eine systemimmanente, aber nicht systematisch organisierte Form der Vernichtung von Erinnerungsmaterial. Bei der menschlichen Erinnerung wird die Flüchtigkeit durch Orte, Zeiten und Rituale des Erinnerns aufgefangen. Die ars memoriae hat von der Antike bis in die Neuzeit (Giordano Bruno, der letzte Meister der Gedächtniskunst, wurde 1600 wegen einer Buchveröffentlichung verbrannt) das Erinnern ohne verbindliche Schriftdokumente organisiert. Es gibt Institutionen des Erinnerns, die die Konstanz von Erinnerung garantieren sollen – Museen und Archive. Aber auch diese institutionelle Erinnerungsarbeit hat einen selektiven Aspekt. Das WWW hingegen ist als Informationsspeicher kumulativ und organisiert kein Vergessen von Informationen. „Es fehlt den System etwas, was den menschlichen Wissensarbeiter auszeichnet, nämlich, dass er beständig Wahrgenommenes, Gelesenes vergessen kann, weil es in verdichteter Form in die Entwicklung seiner Wahrnehmungsweise, seines Denkens und seiner Erfahrungsweisen eingegangen ist. Vergessen ist für ihn gewissermaßen ein Bewahren, und das wird man nicht durch formale Löschvorgänge nachmachen können“. [3]
Kein Archiv der Welt, jedenfalls nicht in der gegenwärtig noch virulenten typographischen Ära, wurde eingerichtet, um Kulturgüter aufzuheben und öffentlich zugänglich zu machen. Die Archive enthalten zunächst die Dokumente, die für die alltägliche Arbeit nicht mehr benötigt werden, die also aus den Handapparaten und den aktuellen Ablagen ausgegliedert werden, weil sie aktuell nicht mehr wichtig sind.
Es gibt Archive (und diese Art wollen die erwähnten digitalen Projekte simulieren), die den Anspruch erheben, eine relevante Auswahl von historisch bedeutsamen Dokumenten für künftige Zeitalter oder extraterrestrische Lebensformen zu retten. Die mit diesem Vorgehen verknüpften Phantasien und Projektionen werden selten untersucht. „Wissen der Menschheit“, „Kultur des Volkes“, „Identität der Nation“ … sollte ein Voyager-Raumfahrzeug mit der goldenen Bild- und Schallplatte jemals von einer fernen Zivilisation abgefangen werden, wird sich das Wissen über die Menschheit auf knapp 200 Einzelheiten, darunter ein Foto von Jane Goodall mit ihren Schimpansen, den deutsch gesprochenen Satz „Herzliche Grüße an alle“ und Chuck Berry’s „Johnny B. Goode“ reduziert haben [4] . Die Informationen auf den Voyager-Platten sind übrigens analog gespeichert. Auch das Bundesarchiv speichert unterirdisch ausschließlich analoge Filme (gegen das Licht halten und schon ist der Inhalt zugänglich; werden PDF-Dateien in 500 Jahren noch lesbar sein?). Die Menschheit nimmt sich wichtig, aber eine Verständigung über den Kanon des menschlichen Wissens scheint nicht möglich zu sein; sie findet jedenfalls nicht statt.
„Das Archiv! Meine volle Teilnahme findet es nicht. Ein A. ist etwas Philologisches u. Verstaubtes, keiner interessiert sich dafür, – selbst das Nietzsche-A. wer kennt es, wer war je da, wem gab es Eindrücke? – Wenn ein par Verse von einem noch ein paar Jahre übrigbleiben, ist das schon enorm, auch an einen Kunstbesitz oder ein Kunstgedächtnis dieses Volks kann man kaum noch glauben …“ [5]
Die gebührenfinanzierten Sendungen der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten sind in ganz Deutschland öffentlich zugänglich. Dies entspricht dem gesetzlichen Auftrag an diese Einrichtungen. Ein Auftrag, die existierenden Archive dieser Einrichtungen der Öffentlichkeit verfügbar zu machen, besteht nicht, jedenfalls nicht im Sinne einer jederzeitigen freien Zugänglichkeit zu allen Archivinhalten. Wissenschaftler können in den Schall- und Fernseharchiven recherchieren.
Das Deutsche Rundfunkarchiv ist eine Gemeinschaftseinrichtung von ARD und ZDF. In einer Verwaltungsvereinbarung ist festgelegt: „Das Deutsche Rundfunkarchiv sammelt, archiviert, erschließt und dokumentiert Bild-, Ton- und Schriftdokumente im Dienste der Rundfunkanstalten sowie einer mit Kultur, Kunst, Wissenschaft, Forschung, Erziehung und Unterricht befaßten Öffentlichkeit“ [6] . Die noch erhaltenen Radioendungen aus der Zeit vor 1945 liegen, komplett in Frankfurt. Immer wieder werden Dokumente im Rahmen von Projekten der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden (Ausstellungen, CDs usw.). Für die Zeit von 1945 bis heute gibt es eine „Gemengelage“, nämlich Archivbestände beim DRA und bei den einzelnen Landesrundfunkanstalten. Beim DRA gibt es einen Gesamtkatalog, der auf der Hörfunkseite stark musikorientiert ist – zu finden sind dort Auskünfte über Studioproduktionen, Konzertmitschnitte, Koproduktionen mit Schallplattengesellschaften usw. Die Töne selbst befinden sich in den LRA-Archiven. Ähnliches gilt für die „zeit-, kultur- und mediengeschichtlich“ bedeutenden Fernsehproduktionen seit Gründung. Nur in Ausnahmefällen befinden sich im Archiv vollständige Sendereihen. Aus der Zeit der Ost-West-Konfrontation sind Aufzeichnungen der jeweiligen Gegenseite erhalten – und nur deshalb gibt es Aufzeichnungsreihen von Tagesschau, Aktueller Kamera, Schwarzem Kanal und ähnlichen Sendungen.
Der Umgang mit dem archivierten Material ist häufig arbiträr. Was nicht mehr benötigt wird, kommt ins Archiv – oder verschwindet. Teilweise gab es in der Geschichte der ARD auch gezielte Löschaktionen. Ein Hauptabteilungsleiter für Musik und gleichzeitig Dirigent des Rundfunksymphonieorchesters einer Anstalt ließ Einspielungen seines Vorgängers löschen, um den Hörern ein für allemal den Vergleich seiner eigenen Interpretationen mit denen seines Vorgängers zu versagen. Heinz Schwitzke, als „Hörspielpapst“ der fünfziger Jahre bekannt, und seit Ende 1951 Hörspielverantwortlicher beim NWDR in Hamburg, ließ Hörspielproduktionen der Nachkriegszeit löschen, die nicht seiner eigenen, an Innerlichkeit und überzeitlicher Gültigkeit orientierten Hörspielästhetik entsprachen. In den sechziger Jahren stellte er dann hörspielgeschichtliche Behauptungen auf, die auf die von ihm selbst hergestellte Materiallage justiert waren.
Die in Berlin geplante Mediathek, die im Herbst 2002 eröffnet werden soll, ist vom Konzept her ein Programm-Museum des Hörfunks und Fernsehens. Es wird exemplarische Beispiele für verschiedene Epochen zugänglich machen und später, wenn die technischen Probleme gelöst sind, auch die dezentrale Einspielung von Fernsehsendungen (aus den Archiven der regionalen Rundfunkanstalten) ermöglichen. Einen großen Teil der Kosten trägt das Land Berlin, die öffentlich-rechtlichen und privaten Rundfunkveranstalter stellen Programme kostenlos zur Verfügung. An einen Zugang über das Internet ist nicht gedacht; das Archivmaterial liegt auch in keinem Fall in den internet-üblichen komprimierten Formaten vor.
Unter Berufung auf die digitale Technik und die öffentlich-rechtliche Verpflichtung werden Forderungen zum Zugang zu den Kulturleistungen aufstellt, die in den öffentlich-rechtlichen Archiven schlummern oder zumindest vermutet werden können (denn aufgeschlossen und dokumentiert sind diese Archive nur unvollkommen). Inzwischen senden mehr als 60 ARD-Radiowellen 24 Stunden täglich Programm, und es gibt mehr als 20 öffentlich-rechtliche Fernsehprogramme; es wird also eine ungeheure Materialfülle erzeugt. Doch abgesehen von der Problematik der Aufbereitung und Formatierung für öffentliche Abrufe stellt sich die Frage, welchen kulturellen Sinn solche Forderungen überhaupt haben.
Wir stoßen zunächst auf ein Problem, das wir grundsätzlich mit den neuen technischen Medien haben: Beim Versuch zur Beschreibung und Wertung neuer technologischer Entwicklungen sind wir auf die alten Denkformen und Begrifflichkeiten angewiesen. Dadurch verstellen wir uns in manchen Fällen den Blick auf das Neue. „Als der Buchdruck eingeführt wurde, gab es eine Menge an Reflexionen darüber, wie es auch heute bei der Einführung von Computern und dem Internet wieder der Fall ist. Aber diese Reflexionen haben immer versucht, die jeweils neuen Phänomene mit den alten Gedächtnis- oder Rhetorikbegrifflichkeiten zu fassen: Man hat über lange Zeit hinweg versucht, mit Büchern eine Unterstützung des Gedächtnisses zu leisten. Man schrieb Handbücher oder legte Materialsammlungen an, die allerdings innerhalb von wenigen Jahren überflüssig wurden. Zur Zeit ist zu beobachten, daß wir mit der neuen Technologie dasselbe machen: Man redet ständig vom ‚Zugang für alle zu allen Informationen‘ … Was wir heute vom Internet sehen können, ist, daß mit dem Internet eine virtuell unbegrenzte Zahl von Informationen verfügbar wird, daß die Information an sich aber keinen Wert mehr hat. Was hoch geschätzt wird, ist nicht die Information als solche. Trotzdem bewertet man das Internet aber immer noch nach der alten, am Buch-Modell orientierten Archiv-Vorstellung, wonach man um so reicher ist, je mehr Informationen man besitzt.“ [7]
Die Informationsverfügbarkeit, die uns die digitale Technologie in Gestalt von Speichermedien bietet, ist keineswegs ergänzt durch die Selektionsverfügbarkeit, das das menschliche Gedächtnis oder das bibliographische System anbieten. Der Selektionsaufwand bei Suchoperationen im Internet ist oft so groß, daß sie oft abgebrochen werden und die einzelne Information – weil nicht gefunden oder angesteuert – tatsächlich an Wert verliert.
Michael Giesecke hat als die grundlegende Leistung der Buchkultur die Ermöglichung von interaktionsfreier bzw. hochgradig interaktionsarmer Informationsverarbeitung genannt. Das typographische Medium und die im Zuge seiner Entwicklung gleichzeitig geschaffenen sozialen Institutionen haben es ermöglicht, daß wir aus Büchern lernen können, ohne uns zu sehen und wechselseitig zu verständigen. Epochentypisch ist die Fixierung auf zusammenhängendes, systematisches, vollständiges, kurz: „wahres“ Wissen. Diese Wissensform widerspricht der Operabilität von Wissen im Alltag und besonders in vernetzten Umgebungen. Diesen Umgebungen entspricht eher eine Dialogform, die Giesecke „ökologisch-kultureller Dialog“ nennt, der kein Instrument zur Herstellung eines Konsens ist, sondern jeden Teilnehmer, sein Wissen und seine Meinungen in ihrer Unterschiedlichkeit bestehen läßt. In den Dialog eingeschlossen sind auch die Apparate (in der Vorstellung von Friedrich Kittler ist sogar der Begriff der Gesellschaft abgelöst durch die Gemeinschaft der Menschen, Maschinen und Engel).
Der Rundfunk ist als elektronisches Medium in der auslaufenden typographischen Epoche in einer Zwitter-Rolle. Da er gerade in jedem Modul – Produktion, Verteilung, Empfang – digitalisiert wird, wird er jetzt schon mit Fragen belastet, die noch nicht zielklar sind und sein können. Die Frage nach der Kontrolle von Wissen ist in den letzten 550 Jahren durch die Buchkultur praktisch beantwortet: Hierarchisiertes Wissen, Widerspruchsfreiheit, Wiederholbarkeit, Verallgemeinerbarkeit (um das Wort „global“ zu vermeiden) sind die höchsten Werte dieser Kultur, und diese Werte können nur funktionieren, wenn sie machtgestützt sind (in den gängigen Selbstinterpretationen dieser Kultur durch das „Marktgefüge“).
Jenseits der Buchkultur geht es vermutlich um Wissen, das anders strukturiert ist als das der letzten 550 Jahre, und im Hinblick darauf ist die Frage nach der Kontrolle vielleicht ohnehin obsolet. Der mediengestützte Dialog Gieseckescher Prägung schließt beispielsweise das Konzept der Kontrolle aus. [8]
In der derzeitigen Umbruchphase kann der Versuch beobachtet werden, ein strukturell andersartiges Medium (das Internet) so zu „betreiben“, als sei es ein Bestandteil der Buchkultur und ließe sich in das traditionelle Marktgefüge integrieren. Das gilt auch für die Diskussion über dieses Medium. In diesen geht es häufig um die Verlängerung der vorhandenen Mechanismen auf dem Wege ihrer einfachen Umkehrung: Copyright — „Copyleft“.
Die Diskussion über Archive sollte damit beginnen, daß wir uns fragen, was wir von dem, was wir jetzt – in den digitalen Umgebungen – produzieren, aufbewahren wollen und wie das geschehen soll. Also nicht Kampf um die Umdefinition der Werte der Buchkultur, sondern Neudefinition einer digitalen Kultur des Bewahrens. Das ist zunächst und vor allem die Frage nach den Möglichkeiten des Selektierens, Filterns, der Aufarbeitung, des Lektorats, der Agenturen – und damit immer auch die Frage nach Institutionen, nach Kosten und Verwertungsmechanismen.