Gespräch mit Michael Giesecke, 08.08.2001

[Die rot erscheinende Passage in der zweiten Hälfte des Textes ist nicht Teil der Radiofassung]

Rotermund: Herr Giesecke, Sie sind seit 1999 Professor für vergleichende Literaturwissenschaft in Erfurt, mit den Schwerpunkten Mediengeschichte und Kulturtheorie. Sie wurden in Hannover geboren – 1949 –, sind dort größtenteils aufgewachsen und haben dort erstaunlicherweise auch dort 1970 ein Studium begonnen.

Giesecke: Ja, und dann war die Frage, was und wo ich studiere, und es war klar, daß ich etwas machen wollte, was mit Germanistik zu tun hat, aber ich war nicht so ganz entschieden, entweder Sprachwissenschaft oder Literaturwissenschaft, habe mich dann umgesehen an verschiedenen Universitäten, bin auch in Wien gewesen, fand dann aber Hans Mayer als Literaturwissenschaftler am interessantesten, der lehrte zu jener Zeit eben in Hannover, und dann habe ich da angefangen zu studieren. Ich bin dann ja gewechselt nach dem vierten Semester nach Berlin und habe da bei Holzkamp Psychologie gehört, und danach dachte ich mir, jetzt mußt du dich aber auf irgendein Fach konzentrieren – dann war es nicht die Literaturwissenschaft, sondern die Sprachwissenschaft, germanistische Sprachwissenschaft, und auf diesem Gebiet habe ich dann ja auch meine Staatsexamensarbeit geschrieben: „Über das Lesen und Schreiben in den deutschen Schreibschulen des ausgehenden 15. und beginnenden 16. Jahrhunderts“. Das ist eine sehr umfängliche Arbeit geworden mit viel Quellenstudium, etwa 400 Seiten hatte die damals, und das Thema ist eigentlich prägend geblieben für die weitere Zeit, denn es ging darum, wie das Lesen und Schreiben, das im Mittelalter und davor ja eher eine berufqualifizierende Tätigkeit gewesen ist, wie das zu einer kulturellen Tätigkeit, zu einer allgemeinen Fähigkeit, die notwendig ist, um am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, geworden ist. Aber die enorme Lesefähigkeit, die ja die heutigen Forscher immer wieder erstaunt – die behaupten ja immer, man konnte damals nur geringfügig lesen und schreiben, weil das alles viel zu teuer war, das stimmt ja nur dann, wenn man unser Verhältnis zur Schriftsprache ansetzt mit ihrer hochgradigen Normierung und Ausdifferenziertheit. Wenn man ein einfacheres Aufschreibesystem nimmt, dann kann man in viel kürzerer Zeit das lernen.

Rotermund Wenn Sie erlauben, kommen wir darauf selbstverständlich wieder zurück, das ist ja eine zentrale Fragestellung ihrer aktuellen Arbeiten auch. Ich weiß, daß Sie dann an der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel eine Zeitlang beschäftigt waren. Dort haben Sie eben auch mit der Buchgeschichte sich befaßt. Und ich nehme auch an, ein Teil dieser Tätigkeit ist dann in Ihre spätere große Arbeit – das ist dann ja wohl ihre Habilschrift gewesen – eingegangen, die sich mit dem Buchdruck der frühen Neuzeit beschäftigt hat.

Giesecke: Wenn Sie nochmal auf die Biographie zurückkommen wollen, es gibt noch einen zweiten wichtigen Forschungs- und später auch Lehre-Strang in dieser Biographie, und das ist die Erforschung von interpersonaler Kommunikation, von Face-to-face-Kommunikation. Ich habe in den letzten Semestern, also während und nach der Staatsexamensarbeit, gemeinsam mit Karin Martens ein Projekt gehabt zur Vermittlung von Wissen in frühkindlichen Interaktionen, also im wesentlichen in der Mutter-Kind-Interaktion und im Kindergarten, und wir haben uns dann mit dem Zusammenwirken von sprachlichen und non-verbalen Medien bei Instruktionen beschäftigt. Und wir haben dazu viele Videoaufnahmen gemacht und die mikroanalytisch ausgewertet, und in diesem Zusammenhang ist eigentlich mein Interesse für Face-to-face-Kommunikation und für Sprache und für das Verhältnis zwischen Sprache und non-verbalen Medien gewachsen – und so ist es gekommen, daß ich eigentlich niemals einen technischen Medienbegriff nur entwickelt habe und genutzt habe, weil in diesen Face-to-face-Situationen ja immer der Körper als Medium eingesetzt wird, das Verhalten zu einem Informationsmedium für das Gegenüber wird. Und es ist ja auch so gewesen, daß, nachdem ich in Wolfenbüttel und Bielefeld lange genug mich mit verstaubten Büchern beschäftigt habe und der Hals gekratzt hat von dem 16.-Jahrhundert-Staub und was sonst noch war, und ich mich auch immer wieder gewundert habe, wieviele Bücher aus dem 18.  Jahrhundert überhaupt noch gar nicht aufgeschnitten waren und ich der erste war, der sie gelesen hat – und ich mich auch immer wieder gefreut habe, auch aus meiner Zeit, als ich die Schreibschulen untersucht habe, da sind Forscher gewesen, die damals in Wolfenbüttel gewesen sind und sich da die Quellen angeschaut haben – man muß da auf einem Zettel aufschreiben, wann man das Buch ausgeliehen hat. Damit kann man nachverfolgen, wer nachdem dieses Buch wieder in der Hand hatte, und Johannes Müller, dessen Quellenschriften zum deutschsprachigen Unterricht eine wichtige Grundlage damals für mich waren, dem bin ich immer wieder begegnet. In der Bibliothek des Nationalmuseums in Nürnberg, in der Münchener Staatsbibliothek oder in Wolfenbüttel, überall war er da, und manchmal waren nur zwei Namen zwischen ihm und mir, und er hat das Ganze am Ende des 19. Jahrhunderts gemacht.  – Also, wie gesagt, der zweite Strang ist Face-to-face-Kommunikation und nach Wolfenbüttel und Bielefeld bin ich nach Kassel gegangen und habe in einem Projekt zur Erforschung interaktioneller Vorgänge in Ausbildungs- und berufsbegleitenden Supervisions- und Balintgruppen mitgearbeitet –

Rotermund: Können Sie kurz erläutern, was Balintgruppen sind?

Giesecke: Balintgruppen sind Gruppen, die nach Michael Balint genannt wurden. Michael Balint ist ein Schüler von Sandor Ferenczi, der wiederum ein Schüler von Freud war, also ein Psychoanalytiker, der aber ganz unorthodox sich darum gekümmert hat, wie man Professionals beraten kann. In seinem Fall waren das Sozialarbeiter und Allgemeinmediziner, die er nicht als als Individuen mit ihren biographischen Störungen beraten wollte, sondern in ihrer Eigenschaft als Sozialarbeiter. Oder die Mediziner eben in ihrer Eigenschaft als Mediziner, die mit dem Körper der Patienten und mit den Patienten umgehen müssen. Und er hat sehr frühzeitig eine sehr schöne Methode entwickelt, wie man diese berufsabhängigen Qualifikationen von Ärzten und von Sozialarbeitern verbessern kann. Diese Gruppensitzungen, Arbeitsgruppensitzungen, die er kurz nach dem Krieg in London entwickelt hat, die wurden später nach ihm Balintgruppen genannt, und es ist auch heute so, daß Mediziner, die den Zusatztitel Psychotherapie erwerben möchten, solche Balintgruppen-Erfahrung haben.

Rotermund: Das haben Sie – in Bielefeld …?

Giesecke: In Kassel zunächst, und dann bin ich nach Bielefeld gewechselt und habe dort eine wissenschaftliche Mitarbeiterstelle bekommen für den Bereich Pragmatik, das war im Bereich Sprachwissenschaft, und das Ziel war die Untersuchung von verbaler Kommunikation und non-verbaler Kommunikation, nicht so sehr von schriftlicher oder technisierter Kommunikation.

Rotermund: Und in dem Themenbereich ist auch Ihre Promotion angesiedelt …

Giesecke: Ja.

Rotermund: … die Sie in Bielefeld gemacht haben. Das heißt, daß Sie aus dem Zusammenhang der Erforschung der typographischen Kultur, die Sie zunächst von der Rezeptionsseite aus ja betrieben haben, dann auf das Feld der Face-to-face-Kommunikation, wie Sie es genannt haben, übergewechselt sind, dann auch zur Methode der kommunikativen Sozialforschung etwas geschrieben haben – das ist das Thema Ihrer Dissertation – und danach sind Sie dann wieder gewechselt auf das Feld der Buchgeschichte, also der Geschichtsschreibung der typographischen Kultur. Wie kam es zu diesem erneuten Themenwechsel?

Giesecke: Na, ich glaube ja, daß wir Menschen massiv parallelverarbeitend sind, also mit verschiedenen Programmen gleichzeitig arbeiten – ich habe eigentlich, nachdem ich in beiden Gebieten mal gearbeitet hatte – vielleicht sind es ja auch drei Gebiete: was ich nicht mehr so genau ausgeführt habe, ist die Beschäftigung mit der institutionellen Kommunikation, die ja auch im Vordergrund der Dissertation stand – war es so, daß ich eigentlich immer gleichzeitig diese Themen verfolgt habe. Zwar schwerpunktmäßig mal das eine, mal das andere, das ist klar – das Buchdruck-Buch kann man nicht schreiben, wenn man gleichgewichtig auch noch Face-to-face behandelt, das ging natürlich nicht! Aber ich hab auch schon noch in dieser Zeit Veranstaltungen zu Beratungsthemen gemacht. Das sind für mich nicht unterschiedliche Disziplinen, sondern es ging mir immer darum, das Zusammenwirken der Medien zu verstehen, und mir ist bei allen Themen klar gewesen, daß man nur, wenn man eine Perspektive auf die Kommunikation entwickelt, die das Zusammenwirken der verschiedenen Medien, Sinne und Informationsverarbeitungsprozesse im Auge hält, die einzelnen verstehen kann. Zwar muß man sich auf ein einzelnes Medium konzentrieren, wenn man es untersuchen will, aber man muß sich darüber im Klaren sein, daß es quasi nur ein Teilsystem im Rahmen dieses Ökosystems kulturelle Kommunikation ist.

Man versteht beispielsweise den frühen Buchdruck überhaupt nicht, wenn man nicht seine Einbettung in die unmittelbare Face-to-face-Situation in der Schule oder in der Wissensvermittlung im Handwerk oder in den kirchlichen Institutionen vor Augen hat. Ich glaube auch beispielsweise: Ohne daß man sich mit institutioneller Kommunikation befaßt, die ja hochgradig normiert ist, versteht man viele Erscheinungen dieses Buchdrucks überhaupt nicht. Beispielsweise, daß man Regeln auf Vorrat schafft. Das ist ja ein Wesen der Institution. Institutionen leben ja davon, daß sie allgemeine Regel aufstellen, die kontrafaktisch gelten und auf lange Zeit gelten, also quasi auf Vorrat. Und man handelt es eben nicht jedesmal neu aus – wenn man neu aushandeln würde, brauchte man keine Institution. Also man legt etwas fest, für eine längere Zeit, für die Bewältigung von bestimmten Aufgaben. Und genau das hat die neuzeitliche Gesellschaft auch gemacht, indem sie auf Vorrat Normen festgelegt hat beispielsweise für den Schriftgebrauch, eine hochgradige Normierung unserer Standardsprache, die bis in die feinsten Verästelungen geht, wo früher Aushandelungsprozesse stattgefunden haben. Wenn ich für mich selbst schreibe, dann brauche ich keine Rechtschreibenormen, dann kann ich es auch so wieder lesen. Wenn ich es in meiner Familie tue und wir gemeinsam unsere Normen entwickeln, brauche ich es auch nicht, und ich kann es auch ändern, wenn sich irgendetwas als nicht sinnvoll erweist.

Rotermund: Das Auffällige – für mich jedenfalls Auffällige – und Bemerkenswerte für das Erscheinungsjahr – 1991 – Ihres Buchs über die Geschichte des Buchdrucks in der frühen Neuzeit, so ist der Titel, ist, daß Sie im Grunde eine Beschreibungsform der Buchkultur wählen vom Standpunkt der Computerkultur.  Sie benutzen informationstheoretische Begriffe, die erst in den letzten Jahren allmählich zu Gemeinplätzen der wissenschaftlichen und zum Teil auch der Alltagskommunikation geworden sind. Was hat Sie dazu motiviert? Haben sie dazu gedient, die Mechanismen des Medienwandels von der scriptographischen, also auf handschriftlicher Basis sich vollziehenden Schriftkultur zur typographischen besonders herauszustellen oder was ist sozusagen die Leistungsfähigkeit dieser Beschreibungsmethode?

Giesecke: Na, ob mir das 1985 bis 1989, als ich das Buch geschrieben habe, alles schon so klar gewesen ist, was ich Ihnen jetzt sagen werde, das weiß ich nicht.  Im Nachhinein fügt es sich. Am Ende läuft es darauf hinaus, daß ich einen dreifachen Kommunikationsbegriff habe. Ich nenne den auch „Kommunikation 3 D“ – dreidimensional.

Zum einen ist Kommunikation kooperative Informationsverarbeitung. Und da sind wir bei den Begriffen der Informationsgesellschaft und Informationsverarbeitung, die eigentlich erst in unserer Gegenwart modern geworden sind. Kommunikation ist eine Form kooperativer Informationsverarbeitung – man muß gut überlegen, welche Art der Informationsverarbeitung man auszeichnet mit dem Prädikat „kommunikativ“, denn es gibt sehr viele Formen, die nicht kommunikativ sind. Das ist der eine Aspekt.

Der zweite Aspekt der Kommunikation ist die Vernetzung. Diesen Aspekt der Vernetzung habe ich sehr zeitig untersuchen müssen, als ich die Face-to-face-Kommunikation und die Interaktionsstrukturen untersucht habe – da geht es nämlich immer um die Protokolle, nach denen beide Seite ihre Redebeiträge austauschen können – wer darf wann reden, welche Regeln gibt es für den Austausch an Gesprächen?

Der dritte Aspekt, der meines Erachtens notwendig ist, mindestens um unsere kulturelle Kommunikation, menschliche Kommunikation zu verstehen, ist die Spiegelung. Also, wenn unser Gespräch erfolgreich ist, heute, jetzt, dann wird es am Ende so sein, daß gewisse Programme bei uns sich aneinander angeglichen haben. Was ich an psychischen Strukturen habe, auch an Verhalten, daß das davon etwas bei Ihnen widergespiegelt hat. Ein Beobachter von außen würde dann sagen, da haben sich Gemeinsamkeiten hergestellt.

Und jetzt komme ich zurück zu Ihrer Frage, ich habe sie nicht vergessen, die Frage nämlich, wieso haben Sie sich daran gewagt, das fünfzehnte, sechzehnte Jahrhundert in Kategorien zu beschreiben, die im Grunde erst für die Beschreibung der neuen elektronischen Medien entwickelt wurden.

Rotermund: Das ist die Frage, ja.

Giesecke: Die Tatsache, daß das sechzehnte Jahrhundert nicht von Informationsverarbeitung spricht, nicht von Prozessoren spricht und überhaupt dieses ganze Herangehen unter dem Gesichtspunkt, wie ist Parallelverarbeitung von Informationen möglich, daß das so nicht formuliert wurde, das ändert nichts daran, daß die Kommunikation, solange es die Menschheit gibt, schon immer immer Informationsverarbeitung war. Das erstmal vorab. Die Möglichkeit, das zu erkennen und zu beschreiben, die hat sich erst historisch später mit der Ausdifferenzierung und Technisierung herausgebildet.

Rotermund: Meine Frage zielte darauf, ob der Umbruchcharakter, der Medienwandel von der scriptographischen zur typographischen Kultur, den Sie ja in einer Zeit beschrieben haben, in der das Ende der Buchkultur schon spürbar und abzusehen war – und ist -, das ist ja heute das Thema, daß wir in der Mediengeschichte wie  in unserer tagtäglichen Umgebung in diesem Umbruch stehen, ob wir das wollen oder nicht, ob das Sie dazu motiviert hat, um den kommenden Bruch oder den Bruch, in dem wir uns gerade befinden, auch schon mit zu thematisieren.

Giesecke: Ja, das ist biographiehistorisch genau so gewesen, wie Sie es sagen. Und damals dachte ich auch noch, ich würde das mit anachronistischen Begriffen beschreiben – es gibt Stellen im Buch, da habe ich das genauso beschrieben, und würde durch diesen Verfremdungseffekt, das war meine Hoffnung, Dinge sehen, die man nicht sehen kann, wenn man als Teil dieser Buchkultur es betrachtet. Das ist richtig. Das ist ja eine grundsätzliche Erkenntnis, aus diesem Grunde ziehen Sie ja Berater zu Rate, weil Sie glauben, daß ein Außenstehender Ihr Erleben und Ihre Interaktion nochmal mit anderen Augen sieht und Ihnen daher etwas sagen kann, was Sie nicht selbst gesehen haben. Es ging mir nicht darum, nochmal die Selbstbeschreibung, die wir schon seit hunderten von Jahren haben, zu wiederholen und zusammenzusetzen und zu kondensieren – es ging mir schon darum, eine alternative Sicht auf die Buchkultur zu entwickeln.

Rotermund: Wenn ich jetzt mal zum Inhalt dieser Beschäftigung mit der Buchkultur kommen darf: In Ihrem Buch und auch in Aufsätzen, die Sie drumherum und seitdem geschrieben haben, wird die Buchkultur in gewisser Weise ambivalent bewertet. Es gibt eine ganze Reihe von positiven Bewertungen, die nicht nur von Ihnen stammen, sondern die sich durch die Geschichte der letzten 500 Jahre zieht. Es gibt aber eben auch die andere Seite dieser Beschreibung – ich zitiere fünf Stichworte, die ich bei Ihnen finde: Die Buchkultur ist interaktionsfrei, sie ist schriftlich im Sinne von nur-schriftlich, ist visuell im Sinne von ausschließlich visuell, sie ist linear und sie ist widerspruchsfrei –

Giesecke: Ja, das Buchdruckbuch hatte im wesentlichen die Aufgabe, die Leistungen der typographischen Technik und dann der Buchkultur zu beschreiben. Ich habe immer mal schon versucht, die Ambivalenzen anzudeuten, aber das ist im Buchdruckbuch nicht die wesentliche Stoßrichtung. Jetzt in dem Mythenbuch und eigentlich in der ganzen Zeit, seitdem ich es fertiggestellt habe und herumgereist bin und darüber Vorträge gehalten habe, in den verschiedensten Institutionen über die Ergebnisse des Buchdruckbuchs berichtet habe und mit den verschiedensten Berufsgruppen darüber diskutiert habe, ist mir denn doch klargeworden, daß ich dazu neige, die Selbstbeschreibungen dieser Buchkultur nur zu bestätigen und daß ich eigentlich keine alternative Sicht auf diese Leistungen entwickelt habe. Es gibt natürlich eine ganze Reihe von Nachteilen. Wir haben es ja bei den neuen Medien gelernt, sowohl die Vorteile wie auch die Nachteile dieser Medien abzuschätzen. Und wir sind ja der Technik gegenüber viel kritischer geworden. Es gehört eben zu den absoluten Merkwürdigkeiten der Geschichte, daß wir heute die Industriegesellschaft und Industriekultur in ihren Vor- und Nachteilen zu bewerten gelernt haben – wir lehnen den Imperialismus der Industriestaaten ab, wir lehnen die Technisierung aller Lebensbereiche auf Teufel komm heraus ab und wissen um ihre Schwächen, gerade in Mitteleuropa, aber der Buchdruck ist merkwürdig verschont geblieben von dieser Kritik an der Industriekultur. Das ist ein Phänomen gewesen, das mir in den letzten zehn Jahren zu denken gegeben hat. Vor diesem Hintergrund habe ich dann versucht, stärker herauszuarbeiten, inwiefern die Stärken der Buchkultur auch mit ihren Schwächen zusammenhängen und habe mich dann um das Verstehen dieser Schwächen bemüht.

Da haben Sie ja die Stichworte genannt. Die grundlegende Leistung der Buchkultur unter dem Gesichtspunkt der kulturellen und sozialen Informationsverarbeitung ist tatsächlich die Ermöglichung von interaktionsfreier oder – sagen wir es vorsichtiger: hochgradig interaktionsarmer Informationsverarbeitung. Es ist einfach möglich, mit diesem typographischen Medium im Zusammenhang mit vielem anderen – das liegt nicht daran, daß man den Buchdruck erfindet, sondern es müssen noch viele soziale Institutionen geschaffen werden, dann ist es tatsächlich möglich, ohne daß wir uns wechselseitig sehen und verständigen können, aus Büchern lernen können und diese Bücher als ein Medium der Verständigung zwischen uns beiden auch verstehen. Das ist eine großartige Leistung, und diese Leistung habe ich beschrieben mit ihren Voraussetzungen, und der Nachteil davon ist welcher?

Der Nachteil davon ist, daß die interaktive Wissensschöpfung abgewertet wird in der Kultur. Der deutsche Aufsatz, um ein Beispiel zu sagen, ist im ausgehenden 19. Jahrhundert die Einstiegsbedingung für die Beamtenlaufbahn, also man muß gut seine Gedanken so darlegen können, daß keine weiteren Rückfragen notwendig sind. Man muß ein Thema so behandeln können, daß es in sich geschlossen und logisch ist. Und wehe, es tauchen Widersprüche , die ja dann Anlaß geben würden, den Kontakt zu dem Schreiber zu suchen und Interaktion herzustellen. Das soll nicht sein. Es soll perfekt sein. Und es soll perfekt sein für möglichst viele, zu allen Zeiten, an allen Orten. Das ist das Grundideal der typographischen Wissensproduktion, damit auch das Grundideal der neuzeitlichen Wissenschaft: Wahrheit in dem Sinne, daß die Aussagen gelten sollen, nicht nur für Sie und mich hier, was ja vielleicht für viele Zwecke völlig ausreicht, wozu müssen wir allgemeine Wahrheiten zur Grundlage unserer Interaktion machen, es reicht ja, daß es für uns beide wahr und wichtig und nützlich ist – nein, es soll nicht nur für wenige Personen, sondern für alle Personen, möglichst noch auf allen Kontinenten, zu allen Zeiten, an allen Orten gelten. Das ist der Wahrheitsbegriff der neuzeitlichen Wissenschaft, der sich im Augenblick auflöst, weil wir feststellen, es ist überhaupt gar nicht notwendig, daß wir Wahrheiten produzieren, die überall gelten, weil wir sie sowieso nur punktuell und zu bestimmten Zwecken und an bestimmten Orten anwenden.  Wir schaffen einen riesigen Wissensmüll in einer Allgemeinheit, die dann doch wieder dazu führt, daß man an allen möglichen Orten das spezifizieren muß. Dieses Ideal, dieses Streben nach Allgemeingültigkeit, das eine unmittelbare Konsequenz des Ziels ist eine interatkionsfreie Informationsverarbeitung zu ermöglichen.  Das muß relativiert werden, damit wir die anstehenden Aufgaben lösen können und damit wir eine Erkenntnistheorie entwickeln können, die den neuen Bedingungen angemessen ist.

Rotermund: Erleiden wir dabei aber nicht auch einen Verlust? Sehen Sie die Drohung nicht, wenn wir mit der Auflösung des widerspruchsfreien Wissensbestandes auch die Referenzierbarkeit von Wissen überhaupt auflösen. Die Buchkultur kulminiert ja sozusagen in ihrem Bibliothekssystem – das Bibliothekssystem, das alle Bücher auffindbar macht. Jedes einzelne Buch ist durch seine Seitenzahlen, das Inhaltsverzeichnis, durch Indexe und letztlich dadurch ausgezeichnet, daß heute zwar nicht in einem „Buch der Bücher“, sondern im Internet fast alle Bibliotheken der Welt, jedes einzelne Buch und sozusagen jede einzelne Stelle in jedem Buch referenzierbar ist. Dieser Wissensbestand ist ja sozusagen die kulturelle Leistung der letzten 550 Jahre, und daran beginnen Sie jetzt zu kratzen, indem Sie sagen, wir brauchen einen wesentlichen Teil dieses widerspruchsfreien Zusammenhangs und möglicherweise auch das System der Referenzierbarkeit nicht. Oder trennen Sie das?

Giesecke: Also, wie das Schicksal dieses wahren Wissens in der nächsten Zeit sein wird, weiß ich nicht. Ich kann jetzt eigentlich nur meine Wünsche äußern, und da, denke ich mal, daß diese Form des Wissens weiterbestehen wird, aber in einer ungemein verringerten Bedeutung. Man kann nicht beides haben, man kann nicht sagen: wir wollen Teamarbeit haben und dann auf der anderen Seite sagen, die Regeln dieser Teamarbeit sollen wahres Wissen sein und es soll möglichst interaktionsfrei abgehen. Das funktioniert nicht. Daß es nicht funktioniert und zu welchen Problemen das führt, sehen wir im Augenblick knallhart im deutschen Universitätssystem. Man kann nicht die Universitäten auffordern, die Studierenden zur Teamarbeit zu befähigen, wenn man davon ausgeht, daß alles Wissen, was an der Universität zu lernen ist, wahres Wissen ist, über das die Professoren verfügen. In diesem Fall gibt es nur eins: man macht eine Vorlesung oder entsprechende Übungen und vermittelt dieses Wissen den Studierenden. Dann werden diese Studenten zu guten Zuhörern, zu guten Reproduzenten von Wissen und zu sonst nichts. Wenn ich sie zu Teamarbeit befähigen will, dann muß ich Aufgaben setzen, die ergebnisoffen sind. Ich muß zeigen, daß es Schwächen gibt, daß das, was wir wissen, nicht absolut ist, daß es viele Möglichkeiten gibt, es zu interpretieren. Damit nehme ich einen Großteil des Nimbus der Hochschullehrer weg, und die wollen das natürlich zum großen Teil nicht. Man kann nicht sagen, wir bleiben bei den Normen und Idealen der Buchkultur einerseits und andererseits wollen wir aber, daß wir kreativ, schöpferisch und in Teamarbeit neues Wissen schaffen. Die beiden Prozesse müssen in einem komplizierten Prozeß miteinander verknüpft werden, aber die Grundstruktur – darüber muß man sich, glaube ich, im Klaren sein –, das grundsätzliche Setting, das muß festgelegt werden. Wenn ich sage, ich kann diese Probleme lösen durch Rekurs, Referenz auf Buchwissen, das vorhanden ist entweder in den Bibliotheken oder im Kopf der Dozenten, dann habe ich damit ein Setting geschaffen, was die Herausbildung von interaktiven Fähigkeiten und kooperativen Formen der Wissenschöpfung im Grunde unmöglich macht.

Ich finde, das ist ziemlich dramatisch, und ich scheue mich einfach zu sagen, wir lassen beides nebeneinander bestehen. Beides soll nebeneinander bestehen, aber die Frage, unter welchen Rahmenbedingungen lernen und arbeiten wir, diese Frage wird entschieden werden müssen, und ich nehme an, diese Frage wird in nächster Zeit in sehr vielen Bereichen, nicht in allen Bereichen so entschieden, daß man eine eher interaktive Form der Kommunikation oder den Dialog bevorzugt.

Rotermund: Die Wissensformen und Aneignungsformen der Buchkultur haben sozusagen imperialen Charakter, so haben sie es auch einmal formuliert. Es ist zu fragen, ob zwangsläufig wir jetzt an einer Stelle angekommen sind, wo wir dieses System verlassen müssen, wo es uns unter den Füßen weggezogen wird, oder ob wir die Wahl haben, in den Gesetzen, im Rahmen der Buchkultur und ihrer Leistungen und ihrer Vorteile – die es ja selbstverständlich auch gibt – zu bleiben oder ob wir Opfer einer evolutionären, zwangsweisen Mutation dieser Kultur zu einer neuen, nennen wir sie digitalen Kultur werden, oder in eine neue Ära, ob sie nun den Namen wie die Gutenberg-Ära eines Urhebers hat, Turing oder Shannon oder von Neumann –– Sehen Sie diesen evolutionären Prozeß, und an welcher Stelle des Übergangs stehen wir eigentlich?

Giesecke: Ja, diese Fragen sind ja in den letzten Jahren in verschiedenen Gremien der Europäischen Union, die sich mit der Informationsgesellschaft befaßt haben – also Forum Information Society beispielsweise, Gruppe hochrangiger Experten, die eingesetzt ist von der Kommission der EU, die sich mit den Fragen der Informationsgesellschaft zu befassen hat – sind von denen ausführlich diskutiert worden. Und man kann hinzufügen, daß niemals in der Geschichte eigentlich ein Medienwandel so gründlich reflektiert wurde wie der gegenwärtige. Ich denke, man kann verschiedene Phasen ausmachen der Einschätzung dieses Übergangs. Anfangs hat man gedacht, das Wesentliche sind die verschiedenen technischen Erfindungen, die Einführung des Computers – deswegen auch Turing, also jemand, der ein Gerät erdacht hat –, also das habe ich eigentlich immer als eine Fortschreibung der Grundidee der Buchkultur und des Industriezeitalters gedacht, daß die Technik der Fortschritt ist und daß der Fortschritt unaufhaltsam ist – techno vision. Das hat sich schon sehr zeitig relativiert, und man ist darauf gekommen, daß diese Technik ja irgendwie vergesellschaftet werden muß, marktfähig gemacht werden muß. Dann hat man sich auf die Vernetzungsformen gestürzt, und in der ersten Phase hat man gemeint, man könnte es genauso machen wie in der Buchkultur, daß man nämlich den Markt als Regulationsmechanismus nutzt – market vision – und entsprechend waren alle Förderungsprogramme ausgerichtet, also die Marktfähigkeit der Produkte zu verbessern und so weiter. Das sind beides Visionen gewesen, die ich zurechnen würde der Industrie- und Buchkultur. Dann tauchten klassische, uralte Ideale wieder auf: man müßte sich am Menschen, am „user“ orientieren. Man forderte eine neue Renaissance, weil in der Renaissance eben auch der Mensch als Maß der Dinge immer wieder beschworen wurde. So findet man dann in den ausgehenden achtziger Jahren und in den neunziger Jahren eine Vielzahl von Memoranden, in denen ganz in renaissanceartiger Weise der Mensch in den Mittelpunkt gerückt wird. Aber er wird als User dieser Technik oder als Käufer oder als Unternehmer in den Mittelpunkt gerückt. Das sind auch noch Visionen, die ganz im Geiste der Buch- und Industriekultur sind.

Dann tauchten aber eine Reihe von Visionen auf, die da nicht mehr gut hineinpassen. Das ist zum einen das Aufkommen der ökologischen Idee, die Überzeugung, daß diese Technologien entwickelt werden müssen als ein Element in komplexen Ökosystemen und daß es darum geht, Mensch und Gesellschaft auf der einen Seite, Natur auf der anderen Seite und Technik auf der dritten Seite miteinander in eine Balance zu bringen. Wo also die Untersuchungszelle nicht mehr die Technik und nicht mehr der Mensch ist, sondern das Zusammenwirken von diesen drei Aspekten. Und nun tauchte in diesen Zusammenhängen immer stärker eine Vision auf, die ich dann mankind vision nenne, die ist etwas anderes als der Mensch im Mittelpunkt, sondern es geht darum, wie in diesem Ökosystem das Überleben des einen Teiles, nämlich des Menschen gesichert werden kann. Und in dem Augenblick, wo dieses als eine Grundfrage aufgetaucht ist, waren auf einmal ganz neue Wertmaßstäbe erforderlich, um technische und soziale Innovationen zu verstehen, zu befürworten oder abzulehnen. Wenn man das Überleben der Menschheit als ein Grundkriterium nimmt, dann relativieren sich sehr viele Wertvorstellungen, die die Buchkultur entwickelt hat. Ich selbst bin dann eigentlich dazu gekommen, daß ich gesagt habe, die jetzigen Veränderungen sollten wir nicht mit den gleichen Kategorien beschreiben wie wir die Buchkultur beschrieben haben, also unter dem Gesichtspunkt von technischem Fortschritt, Aufklärung auf der einen Seite, marktwirtschaftlicher Vernetzung auf der zweiten Seite. Sondern wir sollten die Grundeinheiten unserer Untersuchung weiter fassen, wir sollten nämlich von kulturellen Ökosystemen ausgehen, die sich zusammensetzen aus artverschiedenen Elementen, Mensch und Gesellschaft – Soziales – auf der einen Seite, Technik und Natur auf der anderen Seite. Man sollte versuchen, die Balance zwischen diesen Größen zu gestalten und zu fragen, wo sind Disproportionen, die dazu führen, daß dieses gesamte System ins Schaukeln kommt. Mit einer solchen Konzeption, denke ich, lassen sich auch die neuen Medien besser verstehen, und ich glaube auch, lassen sich viele Vorzüge dieser neuen Form der Informationsverarbeitung und Vernetzung für eben die Sicherung des Überlebens der Menschheit herausarbeiten.

Dies alles ist soweit eine Sache – da könnten Sie sagen, was interessiert einen Kommunikations- und Medienwissenschaftler diese Frage, das sind ja grundsätzliche Fragen der Ethik, der Philosophie, der Politik, das kann man doch denen überlassen. Nicht ganz, da, um das notwendige ökologische Denken zu entwickeln und um das Miteinander dieser Faktoren zu gestalten, wir einen anderen Kommunikationsbegriff brauchen als denjenigen, den die Buchkultur entwickelt hat und dem wir alle noch mehr oder weniger nachhängen. Man braucht eine andere Erkenntnistheorie, man braucht natürlich auch andere Medienbegriffe.  Und in diesem Zusammenhang ist natürlich interessant das Auftauchen von völlig neuen Kommunikationskonzepten wie beispielsweise Dialog. Der Dialog nicht als Zwiegespräch, sondern der Dialog als eine Form des Austauschs zwischen Kommunikatoren, die sich ihrer Unterschiedlichkeit bewußt sind und die nicht das Ziel haben, allgemeine Wahrheit zu finden, für alle verbindlich, oder den anderen zu überzeugen, ihn also mit den Mitteln der Rhetorik niederzuringen und zu siegen. Der Kommunikationsbegriff der Zeit vor der Buchkultur, der rhetorische Kommunikationsbegriff, das ist ein reiner Kampfbegriff. Es wird im Grunde genommen die Rede als eine Waffe begriffen, mit der man den Gegner niederringt, so wie das in den machtgeordneten Feudalgesellschaften der Fall gewesen ist, und in der Buchkultur wiederum ist der Kommunikationsbegriff der, daß man den anderen überzeugt, auf allgemeine Regeln festlegt, ein abstraktes Drittes, also die Wahrheit, sucht und sich darunter versammelt. Das sind Ziele, die nicht dazu dienen, ökologisch zu denken, weil das ökologische Denken voraussetzt, daß wir die Unterschiede erkennen und sie bestehen lassen, aber trotzdem versuchen, miteinander in Kontakt zu kommen. Also, wir erreichen Verständigung nicht dadurch, daß wir einen Konsens erzeugen, daß wir einer Meinung sind, sondern wir erreichen in den ökologischen Systemen einen Zusammenhang dadurch, daß wir die anderen in ihrer Unterschiedlichkeit bestehen lassen, aber selbst nun in der Lage sind, diese Unterschiedlichkeit einzuschätzen, zu achten, vielleicht auch manches davon zu übernehmen, das ist ja nicht ausgeschlossen.

Rotermund: Wenn ich Sie richtig verstehe, sind einzelne dieser Elemente, die Sie beschrieben haben, also dieses Kommunikationsprozesses, auch Eigenschaften des digitalen Mediums, mit dem wir am meisten konfrontiert sind, nämlich des Internet, wo es eine für viele Teilnehmer subjektiv zumindest so empfundene herrschaftsfreie Kommunikation unter Gleichengibt, wo es nicht die Wissenshierarchie als Grundlage des Austauschs gibt wie in der prononciert von Ihnen beschriebenen Buchkultur. Die Frage, die ich hätte, ob das nicht auch eine gewisse Illusion ist, die sich über dieses Medium zieht, ob es nicht sehr wohl eben auch Machtdispositive gibt, die in diesem Medium, dem Internet, steuernd und lenkend dazu dienen und dazu benutzt werden, das, was an Markterfolgen in der typographischen Kultur, an Markterfolgen in anderenelektronischen Medien schon erzielt wurde – im Fernsehen, im Radio – fortzusetzen. Die freie Kommunikation unter Gleichen erscheint ja auch nur als Begleitmusik innerhalb einer sehr kleinen Nische im Internet. Wo passiert sie denn tatsächlich? In einzelnen Experimenten, in der Netzkunst, in den sogenannten Chats, aber doch nicht im wesentlichen, die Nutzungszeit der meisten Nutzer zu mehr als 90 Prozent verbrauchenden Beschäftigung mit Websites, die man ansteuert, um dort etwas entgegenzunehmen, aber nicht selber etwas zu liefern an Beiträgen.

Giesecke: Freie Kommunikation unter Gleichen habe ich genau nicht gesagt.  Mir rutscht so etwas gelegentlich auch noch heraus, aber das ist genau das Ideal, was den bürgerlichen Gleichheitsvorstellungen entspricht und damit der Buch- und Industriekultur. Das ökologische Denken würde genau fordern, daß es ein Austausch zwischen Unterschiedlichen ist, würde die Artverschiedenheit der Kommunikatoren hochhalten. Ich denke, daß diese Gleichmacherei ein typisches Produkt der Industriekultur ist. Deswegen ist der Dialoggedanke, so wie ich ihn verstehe – ich nenne ihn jetzt auch eher Ökulog, also ökologisch, kulturell und eben dialogisch – er hat mit dem herrschaftsfreien Diskurs, wie ihn Habermas vertreten hat und viele andere auch, wenig zu tun, weil dieser Diskurs sich noch an den parlamentarischen Demokratievorstellungen orientiert und ich gerade nicht möchte, daß wir diese Gleichheit unterstellen, weil sie ja in vielfältigster Form nicht gegeben ist, genau wie Sie sagen. Das Internet muß zu einem Feld des Dialoges werden zwischen ganz unterschiedlichen Kommunikatoren, die sich auch nicht in der Hinsicht als gleich verstehen oder gleichmachen sollten, wie das beispielsweise notwendig ist, wenn wir Fachliteratur lesen. Da müssen wir uns als Experte des entsprechenden Fachs typisieren und uns die entsprechenden Grundkenntnisse aneignen – wir sind ja konstruiert worden als Leser von dieser Fachliteratur: Nur wenn wir uns auf den Standpunkt eines Fachmanns stellen, werden wir diesen Text auch verstehen und nur wenn wir uns die entsprechenden Qualifikationen aneignen, werden wir den verstehen.

Ich glaube, daß die Durchsetzung der neuen Medien sich langsamer vollzieht, als die Durchsetzung des Buchdrucks in der frühen Neuzeit.  Alle Vergleichsdaten deuten darauf hin, und ich habe mich in der letzten Zeit eigentlich nur damit beschäftigt, warum das so ist. Die Antwort ist relativ einfach. Während der Buchdruck nicht in Spanien zur Zeit der Inquisition um 1500 und danach entwickelt wurde, nicht als ein Instrument der Herrschaft der Feudalherren, sondern sich in Zentraleuropa und wesentlich im reformatorisch und revolutionär aufgeputschten Deutschland entwickelt hat, in dem die Zentralgewalt maximal geschwächt war und in dem eine neue ideologische Bewegung, nämlich die reformatorische Bewegung dieses Medium genutzt hat. Es ist so, daß sich die Microsoft-Comptertechnologie und die Vernetzung im Herzland nicht der Buchkultur, aber der Industriekultur, in Amerika entwickelt hat und deswegen eingebaut wird in die Strukturen der Industriegesellschaft. Sie wird in einer Weise instrumentalisiert, genau wie Sie es sagen, von diesen herkömmlichen Strukturen. Das wäre das gleiche, als wenn der Buchdruck eben nicht im freien Markt – das ist ja etwas gegeben, was es in dieser Feudalgesellschaft in diesem Maße gar nicht gegeben hat. Der freie Markt mit seinem geldbasierten Tausch ist erst in der Renaissance zu dem wesentlichen wirtschaftlichen Transmissionsriemen geworden und der Buchdruck hat das unterstützt und hat sich auf diese völlig alternative Schiene aufgesetzt. Währenddessen wird das Internet im Moment kommerzialisiert mit den Mechanismen der Industriegesellschaft. Wenn wir das vergleichen würden, wäre es nur vergleichbar, wenn wir den Buchdruck eingesetzt hätten als ein Instrument der Ordenskommunikation und der feudalen Hierarchie. Das ist der Punkt, an dem wir im Moment stehen. Im Grunde kann man die Einführung der neuen Medien, wenn man sie mit dem Buchdruck vergleicht, nur vergleichen mit der Einführung des Buchdrucks in China und Japan im neunten, achten, sechsten Jahrhundert. Da ist es tatsächlich als ein Medium eingesetzt worden der Verstärkung der institutionellen Kommunikation der Herrschenden. Wir wissen alle, daß sich damals der Buchdruck nur ganz geringfügig durchsetzen konnte, nur in sehr begrenzten Bereichen, nie seine ganzen Potentiale entwickelt hat, nie zur technischen Perfektion gekommen ist, die Gesellschaft ideologisch und sonstwie überhaupt nicht umstrukturiert hat. Also die Potenzen der neuen Medien werden unter den Bedingungen der verkaufsmäßigen Verteilung und der Industrieproduktion überhaupt nicht ausgeschöpft. Das ist, wenn man so will, unsere Tragödie, daß wir mitansehen müssen, daß die Ressourcen verkümmern. Das Internet ist kein Medium, um Geld zu verdienen. Wenn wir es dazu machen, dann reduzieren wir das Internet auf die Möglichkeiten des freien Marktes. Und wenn wir es darauf reduzieren, dann können wir seine Potenzen nicht nutzen.

Rotermund : Worum geht es bei den neuen Möglichkeiten – um tatsächlich innerhalb des Netzmediums neuentstehende Techniken, neuentstehende Produktionsvorgänge, aber auch um neue Inhalte, die nicht in einem anderen Medium adäquat abbildbar sind? Wenn man einmal von den kooperativen Schreibprojekten als einer Form der Netzkunst absieht, die aber im Grunde auch eine Verlängerung der von der Fluxus-Generation betriebenen Mail-Art sind – Kunst vom einen zum anderen geschickt, von dem dann weiterbearbeitet – befindet sich das, was im Netz als Kunst dargeboten wird, in einem Zustand, der es durchaus austauschbar macht. Was daran Video ist, kann man entweder im Fernsehen zeigen oder im Netz zeigen; wenn es Literatur ist, kann man sie auch gedruckt goutieren. Es gibt also noch zu wenig spezifische Hervorbringungen, Kunstformen, die ausschließlich für das Netz produziert sind und im Netz rezipierbar sind.

Giesecke : Das ist aber wieder die Orientierung am Leitmedium. Unsere letzten Argumente lagen ganz in der Linie der Buchkultur – daß man fragt, was kann man damit machen und darauf kommt, das Buch hat erst seine Möglichkeiten entwickelt, als es Information nicht nur aus der Handschrift transformiert hat, sondern ganz neue Formen der Darstellung gefunden hat, die in keinem anderen Medium möglich sind. Nun fragen wir uns, wie ist das beim Internet. Das Internet kommt zu sich selbst in dem Augenblick, in dem man Darstellungsmöglichkeiten findet, die in einem anderen Medium nicht möglich sind. Das ist eine Frage- und Denkrichtung, die man so haben kann und die auch bis zu einem bestimmten Punkt reicht, aber die meines Erachtens den Knackpunkt nicht trifft. Der Knackpunkt ist der, daß wir dieses Medium als einen Teil eines Ökosystems betrachtenmüssen. Und wenn wir das tun, dann fragen wir nicht nur nach den besonderen Leistungen dieses Mediums, sondern versuchen es einzubauen in andere, größere kulturelle Kommunikationssysteme.

Um Ihnen das jetzt deutlich zu machen, was ich meine: Im letzten Jahr hatte mich die Leitung der Wiener Festwochen eingeladen, mit einem bekannten österreichischen Choreographen ein multimediales Stück aufzuführen, zu entwickeln und wissenschaftlich zu begleiten – so ganz genau wußte man auch nicht, was da meine Funktion sein sollte. Aber es sollte auf jeden Fall so sein, daß diese moderne Form der Tanzaufführung noch aus einer anderen Perspektive kommentiert und begleitet wird. Da ich mich nun schon lange mit Tanz beschäftige als einer ganz wesentlichen Form des körperlichen Ausdrucks und der nonverbalen Kommunikation, habe ich das sehr gerne gemacht, und das Ziel war, eine wirklich und in einem nicht technischen Sinne multimediale Aufführung zu gestalten, in der alle Kommunikationsformen eine Rolle spielen sollten. Das lief so ab: Bei den Proben habe ich zugesehen und habe dann in Form einer Supervision mit den Tänzerinnen und auch mit dem Choreographen gesprochen, und wir haben diese Gespräche aufgezeichnet und den Tänzerinnen wieder vorgespielt und wieder die Kommentare aufgezeichnet und auf diese Art und Weise versucht, die spezifischen Ausdrucksmöglichkeiten der einzelnen Tänzer zu erkennen und haben dann aus diesen Daten einen Zusammenschnitt gemacht, der dann auf Video gezeigt wurde, wo praktisch schon eine Interpretation da war – die Kommentare der Tänzerinnen, warum sie so etwas machen und was ihnen dabei wehtut oder nicht wehtut, welche Affekte das in mir ausgelöst hat, das wurde präsentiert in Form eines Videoclips. Gleichzeitig haben die Tänzer dieses Stück vorgeführt, die Zuschauer konnten das auch sehen, und dritterseits, und jetzt kommt der komplexe Charakter zum Tragen, daß wir am Ende der Aufführung, aber als Teil der Aufführung eine Supervisionsrunde quasi mit dem Publikum, mit einem Teil des Publikums gemacht haben – mehrere, weil es sind viele Zuschauer gewesen, die daran Interesse hatten, also mußten wir mehrere machen. Wir haben da versucht, sie zu befragen nach den Affekten, die dieses Stück bei ihnen ausgelöst hat und haben das auch wiederum aufgezeichnet. Wir haben aber versucht, in diesem Gespräch im Sinne eines Dialogs die ganz unterschiedlichen Auffassungsweisen dieses Stückes deutlich werden zu lassen für alle Beteiligten, für die Tänzerinnen und für die verschiedenen Zuschauer und Zuhörer – Musik gab es natürlich auch noch, computergenerierte Musik. So daß eine Art Gesamtkunstwerk entstanden ist – Sie haben die Fluxus-Bewegung ja angesprochen, das hat natürlich eine längere Tradition. Das Grundziel ist, und das wird die Besonderheit der Informationsgesellschaft werden, wenn sie denn wirklich neue Horizonte eröffnet, daß wir solche Ökuloge inszenieren und gestalten können. Das Internet wird dabei eine Unterstützungsfunktion erhalten, aber es wird nicht ein Leitmedium werden in dem Sinne, in dem das Buch ein Leitmedium der Industriekultur gewesen ist, sondern es wird ein wichtiges Medium unter anderen sein, was die Entstehung von solchen Ökulogen unterstützt.

Rotermund : Ein zentrales Medium in diesem Verbund, den Sie sehen, ist dann also das Gespräch, aber das Gespräch nicht verstanden im Alltagssinne, sondern auf einer systematischen Grundlage, ein beispielsweise in der Tradition der Balintgruppen geführtes Gespräch. Sie müßten also, um diesen Kulturwandel, der den Medienwandel begleitet oder ihm folgt, mit der Vermittlung der Fähigkeiten zur Gesprächsführung in diesem Sinne, auch im technischen Sinne, begleiten. Das heißt, Sie erwarten, und das kann ja wohl nicht evolutionär geschehen im Sinne eines spontanen Prozesses, die Möglichkeit der Durchsetzung dieser Gesprächsformen.

Giesecke : Die Grunddummheit unserer Bildungspolitik ist ja, daß sie meint, sie könnte durch die Vermittlung von mehr technischen oder mehr sprachlichen Fähigkeiten im Sinne von – Die Sprache des Internets ist Englisch, also muß jeder Englisch lernen – einen Kulturwandel unterstützen. Das sind sicherlich auch notwendige Qualifikationen, aber zu den Schlüsselqualifikationen dieser Kultur gehören Dialogfähigkeit, gehören die Fähigkeiten nicht nur zu individueller, sondern zu sozialer Selbstreflexion und diese Fähigkeiten müßten vermittelt werden – und nun kommt das Skandalon: Sie werden vermittelt, aber im Moment nur in Form von Weiterbildung von Managern und Führungskräften, die auf dieser Ebene eine Kompetenz erreichen, die die Normalbevölkerung kaum mehr erlangen kann. In den Schulen bleibt der Lehrplan im wesentlichen beim Alten – es werden zwar Computer angeschafft und es wird ein entsprechender Unterricht gemacht, was ich begrüße, das muß sein. Es ist kein Argument gegen die Technik, ich bin überhaupt nicht technikfeindlich, sondern im Sinne der Ausgewogenheit und der Balance müssen diese Fähigkeiten zum Dialog und zur Selbstreflexion  entwickelt werden, weil ansonsten nämlich keine Selbstorganisation, keine Selbststeuerung möglich ist. Und wenn die nicht möglich ist, dann wird sofort wieder dirigistisch von oben fremdgesteuert, und wir hätten dann wieder das hierarchische Steuerungssystem als das dominante in den verschiedenen gesellschaftlichen Subssystemen. Und das genau geht nicht und wäre auch nicht eine Form, die der Selbstorganisation des Internet entspricht. Aber eine Befreiung des Internet ist nur möglich, wenn wir die Nutzer dazu qualifizieren, tatsächlich in moderierten Netzwerken zu arbeiten. So gesehen, wäre eine taktische Schwerpunktsetzung für die nächsten Jahre die, daß man sehr viel stärker kommunikative und interaktive Schlüsselqualifikationen vermittelt, wie dies ja in den Weiterbildungen auf dem grauen Markt der verschiedenen Weiterbildungsinstitutionen oder in den Corporate Universities der großen Unternehmen schon lange geschieht.

Wenn ich gezwungen bin, auf Grundlage der sprachlichen Daten zu entscheiden, komme ich immer zu spät. Mein Verstand ist viel zu langsam, ich muß die Entscheidung sofort treffen, also muß ich mich auf mein Gefühl verlassen. Die dumme Vorstellung des aufgeklärten Buchzeitalters – der Verstand, der Verstand, der hat immer recht und wir unterstützen ihn in unseren Ausbildungsplänen, und wer sich auf das Gefühl verläßt, der ist ja schon fast wie ein Tier. Es ist eine vollständige Umwertung nötig, es muß klar sein, daß das Gefühl ein ebenso wichtiges Selektionszentrum in unserem Gehirn ist wie der Verstand und daß es entsprechend entwickelt werden kann. Diejenigen, die sagen, wenn ich mich auf mein Gefühl verlasse, dann liege ich ewig schief, die haben zweifellos recht, aber das bedeutet ja nur, daß ihr Gefühl verkümmert ist und sonst nichts – das ist ja kein Verdienst, wenn man sich darauf nicht verlassen kann.

Rotermund : In der Beschreibung der Kommunikationsformen sprachen Sie häufiger davon, daß zwei Kommunikatoren sich austauschen. Durch die Medien sind diese Kommunikatoren verbunden, aber auch getrennt. In vielen Fällen findet diese Kommunikation für den Teilnehmer an dem Prozeß gar nicht zielgerichtet mit einem anderen Menschen statt, sondern es ist eine Art Mensch-Maschine-Kommunikation. Der Computerbenutzer kommuniziert ausschließlich zunächst einmal mit einer Maschine, der Internetnutzerkommuniziert mit einem technischen System und dessen Gesetzmäßigkeiten. Eine kleine Ausflucht bietet das Medium, das das erfolgreichste in den letzten Jahren gewesen ist, das Mobiltelefon, mit den Möglichkeiten sowohl quasi analog Sprachverkehr zu betreiben wie auch den Austausch von Texten und Bildern. Ist in der Beschreibung Ihres Informationsverarbeitungssystems der Prozeß der Mensch-Maschine-Kommunikation überhaupt präsent?

Giesecke : Oh ja. Das ist ja ein Hauptgrund gewesen, weshalb ich gesagt habe, wir brauchen einen ökologischen Kommunikationsbegriff, weil wir eben auch nicht-menschliche und nicht-soziale Kommunikatoren in Betracht ziehen müssen. Das ist übrigens ein Ausfluß meiner fast siebenjährigen Tätigkeit im Gartenbau, wo es um die Frage geht, inwieweit Pflanzen und Tiere als Medien, als Kommunikatoren in der kulturellen Kommunikation eine Rolle spielen. Natürlich im gleichen Sinne ist auch die Frage: Wann und unter welchen Umständen können wir davon reden, daß technische Instrumente oder Steine zu Kommunikatoren oder zu Medien werden. Das ist eine ganz wichtige Frage, und ich bin ganz entschieden dafür, im Rahmen dieses ökologischen Kommunikationskonzeptes auch nicht-menschliche Kommunikatoren zu akzeptieren. Das tun die meisten Kollegen überhaupt nicht. Die herrschende publizistische Kommunikationswissenschaft, die einen soziologisch oder psychologisch verkürzten Kommunikationsbegriff nutzt, tut dies erst recht nicht.

Wir haben die Möglichkeit, wie alle Gesellschaften vor uns, selbst zu bestimmen als Kultur, als Gesellschaft, welchen Kommunikationsbegriff wir haben wollen. Ich halte den Kommunikationsbegriff, der sich mit dem Namen von Paul Watzlawick verknüpft, daß jegliche Informationsverarbeitung und jegliche Interaktion Kommunikation ist, den halte ich für nicht gut. Der Mensch muß nicht beständig kommunizieren, sondern im Gegenteil, es ist sehr notwendig, daß er die Möglichkeit hat, nicht zu kommunizieren. Er kann nicht nicht Informationen verarbeiten, weil er beständig sich orientieren muß. Aber ich halte es für sinnvoll, einen Kommunikationsbegriff als kulturellen Leitmaßstab zugrundezulegen, der bestimmte Formen der Informationsverarbeitung als Kommunikation nur bezeichnet.

Wenigstens für mich ist es die Aufgabe der nächsten Jahre, mir darüber klarer zu werden, welche Werten wir denn in den Vordergrund stellen. Ob wir zum Beispiel sagen, nur wenn es Wechselwirkung in dem Sinne gibt, daß Sie mich beeinflußt haben, ich Sie beeinflußt habe, wir das uns wechselseitig auch noch zuschreiben, dann hat Kommunikation stattgefunden oder reicht eine einseitige Beeinflussung aus. Das ist ja auch in der Interaktion mit dem Computer immer der Fall, daß man sich fragt – er hat mich zweifellos jetzt geärgert, aber habe ich ihn auch geärgert, und ist das nicht erst notwendig, damit wir von Kommunikation reden. Muß er auch erst noch in der Lage sein zu reflektieren, daß er sich mit mir in Kommunikation befindet, also ist nur dann von Kommunikation zu reden, wenn alle Beteiligten davon ausgehen, daß sie auch im Gespräch sind?

Rotermund : Sie halten, das entnehme ich daraus auch, an einem Begriff der Gesellschaft fest, in der Einflußmöglichkeiten auf die Definition des Kommunikationsprozesses und auch auf Kommunikationsprozesse selbst geschehen kann. Sie gehen nicht so weit wie Friedrich Kittler, der sagt, statt der Gesellschaft gebe es nur noch die Gemeinschaft der Menschen, Engel und Maschinen, der also die Kommunikationsprozesse in hierarchisch gesteuerte Beziehungen aufgelöst sieht?

Giesecke : Man kann das Kind auch mit dem Bade ausschütten. Die Gefahr bei der Kittlerschen Position besteht darin, daß wir unsere Rechte und Pflichten auf soziale Selbstbeschreibung nicht mehr wahrnehmen. Die müssen wir aber wahrnehmen, und folglich haben wir auch die Verpflichtung, einen sozial verträglichen Kommunikationsbegriff zu entwickeln. Wir haben das immer getan. Alle menschlichen Gesellschaften haben definiert, was sie für Kommunikation halten, und das ist in einem sozialen Konsensbildungsprozeß passiert. Die radikale Ökologie würde ja sagen, wenn der Mensch in diesem Ökosystem überflüssig ist und er keine Nische mehr findet, soll es uns recht sein, wir kümmern uns nicht weiter darum. Ich glaube, so weit wird es wohl nicht kommen, ich denke, daß wir die Ökosysteme auch unter dem Gesichtspunkt betrachten, daß wir uns selbst darin erhalten wollen. Wenn es dahin kommt, daß wir uns entscheiden, wir wollen nicht mehr, insgesamt und als Ganzes, gut, das ist eine andere Situation. Ich selbst sehe diese Tendenz aber überhaupt noch nicht.

Rotermund: Das ist das eine, die Nutzung des Internet, um neue Marktelemente zu erzeugen, auf einem Markt und den bestehenden Marktgesetzen setzt das Internet zumindest auf. Das andere ist, daß neue Kommunikationsformen, daß neue, medienspezifische Formen, wie Information nicht nur verarbeitet und verteilt wird, sondern auch rezipiert wird, entstehen könnten oder dabei sind zu entstehen, dabei sind, durchexperimentiert zu werden, daß auch neue Kunstformen entstehen oder zumindest dabei sind in einem sehr experimentellen Stadium. Sie haben einmal den Begriffszusammenhang oder Schlagwortzusammenhang „Sinnenwandel – Kulturwandel“ in einem Aufsatz geprägt. Sind wir schon soweit, beim Aneignen der Möglichkeiten, die das Internet und die die digitalen Medien uns bieten, daß wir davon sprechen können, daß so etwas wie ein Sinnenwandel passiert? Wenn nicht – durch die Blockierungen, die Sie ja eben genannt haben –, wie könnten diese Prozesse aussehen, wenn diese Blockaden niedergerissen sind oder wenn sie zum Verschwinden kommen?

Giesecke : Ja, ich glaube, das passiert. Jeder, der sich auf einem der Musikkanäle sich die Videoclips anguckt, findet, daß man sie in einer anderen Weise betrachtet als man Bilder betrachtet. Zwar sieht man sie auch noch, aber man sieht sie anders. Es findet ein Verstoß gegen die Grundprinzipien der perspektivischen Wahrnehmung statt. Perspektive baut ja darauf auf, daß wir unsere Beziehung als Betrachter zu dem Betrachteten konstant halten und so tun, als wenn sich das nicht verändern würde während der Betrachtung, obwohl sich natürlich die Umwelt verändert, während wir sie betrachten, aber wenn wir sie darstellen, dann tun wir so, als wenn die Gegenstände so bleiben würden, sie nicht verwelken würden, sie sich nicht bewegen würden. Nur aufgrund dieser Idealisierung kommen wir ja zu Objekten mit einer klaren Umrißlinie und mit einer klaren Identität. Diese klaren Umrißlinien und Identitäten werden aufgelöst in den neuen Formen der Darstellung. Und in dem Maße, in dem wir das goutieren können und uns darauf einlassen, oszillieren wir in unserer sinnlichen Wahrnehmung der Umwelt. Wir behalten unsere Standpunkte nicht mehr bei, sondern springen hin und her und setzen am Ende unsere Erfahrung zusammen – wie auch immer, Stück für Stück, aber nicht in dem vorgegebenen linearen Sinn. Das verändert unsere Wahrnehmungsweisen und macht uns flexibel für oszillatorische Prozesse. Oszillation ist – glaube ich – ein extrem wichtiger Begriff, um unsere veränderten Formen der Informationsverarbeitung zu begreifen. Die Frage, wie weit wir darin schon vorangeschritten sind, ist natürlich schwer zu beantworten. Die Kunst ist in dieser Hinsicht ein Vorreiter, und es ist nicht umsonst, daß ich in der letzten Zeit mich wieder sehr viel stärker der Kunst zugewandt habe und im Rahmen meiner Lehrtätigkeit in Erfurt mich auch mit Netzästhetik beschäftige und auch in nächster Zeit eine größere Tagung mitausrichte, in der es um diese neuen Formen kooperativer netzästhetischer Produktion geht, um eben dem Neuen auf die Spur zu kommen. Es geht im Augenblick für mich noch darum, dem auf die Spur zu kommen – und ich habe die Idee, daß Kunst, Videokunst auch, Computerkunst, versucht, die neuen Möglichkeiten auszuloten.

Rotermund : Ihr Buch, das im Herbst erscheinen wird, trägt den Titel „Von den Mythen der Buchkultur zu den Visionen der Informationsgesellschaft“. Der Suhrkamp-Verlag hat angekündigt, daß dem Buch eine CDROM beigegeben ist, auf der sich der gesamte Text des Buches in computerlesbarer Form findet – ist das noch angereichert durch zusätzliches Material?

Giesecke: Oh ja! Die Bedingung, daß ich dieses Buch geschrieben habe, war die CDROM, und zwar der Teil, der nicht im Buch ist. Einmal enthält die CDROM den gesamten Text im PDF-Format, so daß man die praktischen Suchfunktionen des Acrobat Reader nutzen kann, aber darüber hinaus enthält sie eine Datenbank, eine geführte Datenbank mit Informationen über das Thema. Das gliedert sich in verschiedene Module und ist teilweise datenbankmäßig, teilweise hypertextmäßig, teilweise netzbasiert aufgebaut und teilweise in Form einer Ausstellung. Es ist auch eine Erkundung in den Möglichkeiten des neuen Mediums. Ich habe ja für mich entschieden, eigentlich kein Buch mehr zu schreiben und habe jetzt bei diesem Buch zur Bedingung gemacht, daß ich Teile davon mit den Mitteln des neuen Mediums ausdrücken kann – und das ist auch nach verschiedenem Hin und Her in einer sehr kollegialen Form mit dem Suhrkamp Verlag gelungen. Ich probiere, ich experimentiere mit den Möglichkeiten dieses neuen Mediums und versuche, verschiedene Zugänge zu eröffnen und hoffe, daß einzelne dieser Zugänge dem einen oder anderen Nutzer dann zusagen. Es sind eine ganze Reihe von Informationen auf der CDROM, die in dem Buch nicht sind und umgekehrt.

Rotermund: Da stehen also auch uns als Lesern oder Rezipienten spannende Erfahrungen bevor. Ich danke Ihnen für das Gespräch, Herr Giesecke.