Wir sehen nicht, dass wir nicht sehen

Heinz von Foerster:
Ein Portrait des Mitbegründers der Kybernetik

Von Hermann Rotermund


Musik: Klavierstücke von Josef Matthias Hauer, gespielt von Herbert Henck

Erfahrung ist die Ursache. Die Welt ist die Folge.

Nur die Fragen, die prinzipiell unentscheidbar sind, können wir entscheiden.

Das Nervensystem organisiert sich so, daß es eine stabile Realität errechnet.

Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners.

Die Hörer, nicht die Sprecher, bestimmen die Bedeutung einer Aussage.

Die Landkarte ist die Landschaft.

Notwendigkeit entsteht aus der Möglichkeit, unfehlbar zu deduzieren. Zufall entsteht aus der Unmöglichkeit, unfehlbar zu handeln.

Handle stets so, daß die Anzahl der Wahlmöglichkeiten wächst.

Diese Sätze hat Heinz von Foerster in seinen Schriften und Vorträgen viele Male wiederholt. Die meisten von ihnen enthalten Provokationen gegen die von Aristoteles bis Bertrand Russell gültige Logik und gegen die dem objektivistischen Erkenntnisstandpunkt verpflichtete wissenschaftliche Einstellung. Der Ausschluß des Paradoxon aus der Logik und der Ausschluß des Beobachters und Beschreibers aus dem wissenschaftlichen Erkenntnisprozeß sind allerdings Positionen, die in diesem Jahrhundert durch die wissenschaftliche Theoriebildung und Beobachtung gründlich erschüttert wurden. Das Gödelsche Unvollständigkeitstheorem und die Heisenbergsche Unschärferelation brachten die Selbstillusionen der ,,exakten" Wissenschaften Mathematik und Physik zu Fall. Die seitdem mit großem Aufwand angestellten Experimente setzen das vor 2.500 Jahren von Aristoteles ausgeschlossene ,,Dritte" wieder in sein Recht: Es gibt Dinge, die sowohl wahr als auch falsch sein können. Bei der Entscheidung über wahr oder falsch kommt es auf den Beobachter an. Der Beobachtungsprozeß, aus dem Beschreibungen hervorgehen, und die Rolle des Beobachters selbst haben Heinz von Foerster während seines ganzen Lebens als Wissenschaftler beschäftigt.

Wenn man den Beobachter nicht entdeckt hätte, hätte man ihn erfinden müssen -

schreibt Dirk Baecker in einem Heinz von Foerster gewidmeten Aufsatz, und setzt fort:

Sicher hätte [Heinz von Foerster], auch auf diesem Feld bewandert, den Beobachter herbeigezaubert, wäre er nicht entdeckt worden.

Heinz von Foerster wurde am 13. November 1911 in Wien geboren und wuchs in einer Familie auf, die mit der kulturellen Elite Österreichs persönlich und familiär verflochten war. Die Großmutter mütterlicherseits, Marie Lang, war eine der wichtigsten österreichischen Frauenrechtlerinnen um die Jahrhundertwende, Mitherausgeberin der Zeitschrift Dokumente der Frauen, und bildete später zusammen mit ihrem Mann den Mittelpunkt eines freisinnigen Kreises, in dem sich Künstler, Philosophen und Politiker einfanden. Mit der Familie Wittgenstein gibt es entfernte verwandtschaftliche Beziehungen, zu Neffen und Nichten des Philosophen Ludwig Wittgenstein hatte Heinz von Foerster auch persönliche Kontakte. Mit seinem Cousin Martin Lang begeisterte sich Heinz als Bub von 10, 11 Jahren an magischen und illusionistischen Experimenten. Die in seiner Jugend erworbenen Fertigkeiten verlernte er wohl nie, in manchen Fußnoten von Aufsätzen über Heinz von Foerster finden sich Andeutungen wie die eben von Dirk Baecker zitierte über seine Zauberkunst

Heinz von Foersters Onkel Erwin Köchert, ein Halbbruder seiner Mutter, war Musikliebhaber und Förderer von Komponisten wie Hugo Wolf.

In einem Gutshaus, das die Köcherts am Traunsee besaßen, lernte Heinz von Foerster als 16-jähriger Schüler Josef Matthias Hauer kennen, der seit 1919 unabhängig von Arnold Schönberg das Prinzip der Zwölftonreihe zu seinem Kompositionsgesetz gemacht hatte. Im Jahre 1993 schreibt von Foerster:

Es muß wohl ein Sommertag im Jahre 1927 gewesen sein, an dem die gerade verweilenden Verwandten und Freunde, mich eingeschlossen, um den großen Familientisch im Hause Köchert bei einem köstlichen Mittagessen saßen und Hauer zuhörten, der von seinen 12-Ton-Spielen sprach ... Er erklärte [...], daß es einfach wäre, ein 12-Ton-Spiel zu ,,komponieren", nämlich, die Namen der 12 Töne innerhalb einer Oktave, also c, cis, d, dis, e, f, ..., auf 12 Zettel zu schreiben, die in einen Hut zu werfen, den gut zu schütteln, und dann einen Zettel nach dem anderen herauszuholen und die Namen zu notieren. Die sich ergebende Folge ist dann, sozusagen, die ,,Signatur" dieses soeben ,,komponierten" 12-Ton-Spiels. Und dann sagte er: ,,Wie man leicht sieht, gibt das beinahe unendlich viele verschiedene solche Folgen." Da unterbrach ich seine Erzählung: ,,Ja, Sie haben ganz recht. Es gibt ,beinahe` unendlich viele solche Folgen, das heißt es gibt eine endliche Anzahl solcher Folgen. Und wenn Sie wollen, kann ich das für Sie ausrechnen."

Es war für den Gymnasiasten nicht schwer, die 479.001.600 möglichen Tonfolgen einer Zwölftonreihe zu errechnen. Hauer waren solche Zahlenspiele vertraut. Er beschäftigte sich zu jener Zeit mit der Ordnung der Zwölftonfolgen in 44 sogenannte Tropen, die bei ihm fortan die früheren Tonarten vertraten, und mit der Entwicklung einer speziellen Notation für Zwölftonfolgen, die an die Klaviertastatur angelehnt war. Zwanzig Jahre später, 1947, schrieb Heinz von Foerster für eine kirchliche Zeitschrift einen Artikel über den unter den Nazis verbotenen Komponisten unter dem Titel Von Pythagoras zu Josef Matthias Hauer. Darin bringt er die Entwicklung der abendländischen Musik mit der der Naturerkenntnis und der Philosophie in Zusammenhang:

[Pythagoras entwickelte aus der chaotischen Fülle der unendlichen Tonmöglichkeiten, die sich zwischen einer Oktave spannen, durch ein klares System eine Auswahl von sieben Tönen.] Diese Töne entstanden durch die Teilung einer Saite in zwei, drei und fünf Teile ... Doch niemals hätte Pythagoras die rationale Welt der reinen Verhältnisse so streng abgrenzen können, hätte er nicht als erster Mathematiker die Welt des Irrationalen erkannt. Von ihm stammt der berümte Beweis, daß die Wurzel aus zwei nicht als Verhältnis zweier endlicher ganzer Zahlen erklärbar ist. [...]

[Den Musikern entging nicht], daß bei Beginn einer Skala von einem anderen Ton als dem Grundton aus, ein neuer Ton in das Skalensystem eingebaut werden mußte, und daß dieses Einbauen neuer Töne niemals zu einem Abschluß führt, soweit man auch fortschreitet. Das pythagoreische System zeigte sich von diesem Standpunkt aus als nicht in sich abgeschlossen[...] Es war kein Zufall, daß auf der Suche nach dem Algorithmus, dem allgemein gültigen Kalkül, fast zur gleichen Zeit sowohl in der Mathematik als auch in der Musik ein Schritt von säkularer Bedeutung getan wurde: Leibniz und Newton fanden die Differential- und Integralrechnung, und Andreas Werckmeister die wohltemperierte Stimmung. [...] Das System dieser ,,wohltemperierten Stimmung" besteht darin, daß alle Halbtonintervalle im gleichen Verhältnis zueinander stehen, und daß die Oktave in zwölf solcher Intervalle geteilt wird. Die Mathematiker können zeigen, daß das Verhältnis eines solchen Halbtonschritts der Irrationalzahl zwölfte Wurzel aus zwei, das ist 1,0595..., entspricht. [...]

Und so erreichte die Musik ihren Höhepunkt unter Bach mit der Grundlage der temperierten Stimmung. Der schwebende Wohlklang des temperierten Dreiklangs mit den irrationalen Verhältnissen 1,0000... : 1,2500... : 1,4983... : 2,0000... war Symbol der unfaßbaren unendlichen Göttlichkeit gegenüber dem Dreiklang mit den rationalen Verhältnissen 1 : 5/4 : 3/2 : 2 der faßbaren klassischen Götterwelt. [...]

Im Laufe der Zeit trennte sich [allerdings] das musikalische Schaffen immer mehr von der tonalen Ordnung innerhalb der temperierten Stimmung und drohte ins Chaotische der unendlichen Klangkombinationen einer atonalen Musik zu gleiten ...

Da schuf etwa im Jahre 1920 der Wiener Josef Matthias Hauer [...] die Grundlage zur Zwölftonmusik. In einer Tonfolge von zwölf Tönen, in denen jeder Ton der zwölfstufigen temperierten Skala einmal - und nur einmal - enthalten ist, entfaltet sich der reine Melos, in dem der Rhythmus völlig aufgegangen ist und nur mehr innerhalb des Melos als Periodizität erkennbar wird.

So wie das Göttliche, das noch im christlichen Mittelalter und in der beginnenden Neuzeit seinen Ort im Unendlichen haben konnte, von da in der neusten Zeit verdrängt wurde, denn in den in sich geschlossenen vierdimensionalen Räumen Einsteins oder de Sitters und den zeitlichen begrenzten Welten Weizsäckers und Jordans ist ebenso wenig der ,,Platz für Gott" zu finden, wie einst in den mathematischen Formeln Newtons. So ist auch in Hauers Musik das Göttliche nicht zu finden in der irrationalen Abwandlung des tonalen Dreiklangs.

Heinz von Foerster hatte an den Technischen Hochschulen in Wien und in Breslau Physik studiert. Seine Interessen waren geleitet von den Ideen der Psychophysik in der Tradition Fechners und den erkenntnistheoretischen Entwicklungen des Wiener Kreises, vor allem Wittgensteins und Carnaps. Gleich zu Beginn seines Studiums, im Jahre 1931, besuchte er als Gasthörer eine Vorlesungsreihe an der Universität in Wien, die der Wiener Kreis veranstaltete. In dieser Reihe las Professor Scheminsky über die Frage ,,Ist es möglich, künstliches Leben zu erzeugen?". Er sah dort in der ersten Sitzung, daß Scheminskys Kollegen aus anderen Fachbereichen, die in der ersten Reihe Platz genommen hatten, im Protest gegen die Thematik aufstanden und den Hörsaal verließen, was von Foerster und viele andere Studenten erst recht zur weiteren Teilnahme motivierte. Zusammen mit dem Neffen Ludwig Wittgensteins, Paul Wittgenstein, studierte er den Tractatus logico-philosophicus, bis sie ihn beide fast auswendig herunterrattern konnten. Das Nachdenken über das Denken, das hier für ihn begann, zieht sich dann durch alle seine weiteren theoretischen Beschäftigungen.

Im Jahre 1938 siedelte Heinz von Foerster nach Berlin über und arbeitete dort vor allem auf dem Feld der Mikrowellenforschung, das heißt, des Radar. Der Radar wurde allerdings in Deutschland als nicht kriegsentscheidend eingeschätzt, weshalb die theoretische und praktische Befassung mit diesem Thema außerordentlich eingeschränkt wurde. 1944 promovierte von Foerster an der Universität Breslau. 1945 verließ er Berlin mit seiner Frau Mai, sie waren ausgebombt und mittellos. In seiner Heimatstadt Wien fand Heinz von Foerster Beschäftigung bei einer schwedischen Telefongesellschaft und dann bei einer amerikanischen Rundfunkstation, bei der er für Kultur und Wissenschaft zuständig war. In dieselbe Zeit wie seine zitierte musikhistorsche Betrachtung fällt auch die Abfassung einer kleinen theoretischen Untersuchung, die seinem Leben eine Wendung geben sollte. Heinz von Foerster berichtet darüber selbst in einem Vortrag, den er Ende Januar 1997 in Berlin hielt:

Ich habe ein elendes Gedächtnis für Sachen, die nur so Daten sind: Rom wurde gegründet 753 vor Christi oder Milan ist die Hauptstadt von Norditalien - diese Sachen vergesse ich wie nichts. Aber wenn eine Relationsstruktur gegeben ist, nicht wahr: Steine fallen herunter, wenn man die Hand aufgemacht hat, ein Naturgesetz zieht sie herunter - das merke ich mir. Also, habe ich mir gedacht, muß ich mir eine Zeittafel machen. Dann habe ich einen Strich gemacht, also: Christi Geburt, Krönung Karls des Großen, Prager Fenstersturz etc. Und da passiert das folgende, wenn Sie das tun, daß je weiter Sie zurückgehen, desto weniger steht auf dieser Tabelle. Nur, was näher und näher gekommen ist, gestern war ich im Kino, vor drei Wochen war ich da und da, dann wird es so dicht, daß Sie es nicht reinschreiben können. Und wenn Sie zurückgehen, da wird das so leer, daß Sie sich fragen, warum steht da nichts mehr drin? ...

An solchen Fragestellungen erprobte Heinz von Foerster seine mathematische Methodenkenntnis. Mathematik war ihm immer schon leichtgefallen, und Denksportaufgaben wie diese lenkten ihn von der mißlichen materiellen Situation seiner Familie in der Sektorenstadt Wien ab. Er hatte eine Idee:

Wenn ich das auf einem Logarithmenpapier schreiben würde, wo jede Zehnerpotenz eine gleiche Einheit ist, dann habe ich: Das letzte Jahr sind fünf Zentimeter, die letzten zehn Jahre sind fünf Zentimenter, die letzten hundert Jahre ... Wenn Sie das machen, dann haben Sie: Entstehung des Universums, die Entwicklung des Lebens, die Produktion der Planeten, die Dinosaurier florieren, die Dinosaurier sind tot, also da kriegen Sie alles drauf, sogar das Kino von gestern. Unglaublich, aha, habe ich mir gesagt, das ist die Methode, mit der ich mir was merken kann. Und das habe ich natürlich gemerkt, wann Karl der Große gekrönt worden ist: das war nach den Dinosauriern. Diese Einsicht: Wenn ich logarithmisch die Geschichte schreibe, dann ist es überall gleich, dann habe ich mir gedacht, vielleicht hat das mit deinem Gedächtnis zu tun. Vielleicht ist unser Gedächtnis so konstruiert, daß wir Prozente, das gleiche Verhältnis von dem was wir wissen, vergessen. Und das heißt natürlich, je weiter ich zurückgehe, wird immer weniger und weniger überschlagen. Wenn Sie mathematisch gebildet sind: das ist genau eine logarithmische Funktion, mit der Sie Ihre Erinnerungen aufrechterhalten. Aha, habe ich mir gesagt, jetzt weiß ich, wie das Gedächtnis funktioniert.

Die wissenschaftliche Neugier Heinz von Foersters war nie an eine bestimmte Disziplin gebunden. Er näherte sich vielen Problemen, auf die er stieß, völlig unakademisch. Die Grenzen festgelegter Disziplinen interessierten ihn dabei nicht, und so war es ihm auch immer gleichgültig, ob er als Physiker, als Mathematiker oder als Biologe wahrgenommen wurde. Auf diese interdisziplinäre oder transdisziplinäre Weise setze er sich auch mit dem Problem des Erinnerns und des Vergessens auseinander.

Nach dem Krieg, wie ich wieder zurück in Wien war, da habe ich nicht ein Buch mehr besessen. Und da habe ich bei Antiquariaten herumgestöbert, um zu sehen, ob dort ein Buch ist, das ich mir kaufen kann. Und da ist ein Antiquariat, da ziehe ich mir ein Buch heraus, das heißt: Einführung in die Psychologie. Ich schlage eine Seite auf, um zu sehen, was da los ist: da ist eine Kurve: die Ebbinghaus'sche Vergessenskurve. Das ist das Buch, das ich mir kaufen muß. Was kostet das? Fünfundzwanzig Pfennig? Gut, das kauf ich mir. Ich stürze nach Hause, messe diese ganzen Punkte der Kurve mit dem Rechenschieber, multipliziere und stecke das in meine exponentielle Vergessenskurve hinein und denke: Jetzt wird meine ganze Theorie des exponentiellen Vergessens bestätigt. Meine Damen und Herren: Nichts hat gestimmt!

Um Himmels willen, es war so schön - was ist da los? Dann habe ich natürlich gelesen, was der Ebbinghaus getan hat, das habe ich vorher nicht, ich wollte ja nur die Kurve. Und da habe ich gesehen, was der Ebbinghaus gemacht hat. Er hat da seinen Schülern, natürlich, dazu sind ja die Schüler da, gesagt: Jetzt gebe ich euch fünfzig unsinnige Silben wie Ba, Muh, Tschi, Fa, Ko, Brr, die lernt ihr alle schön auswendig, und wenn ihr sie heute wißt, dann werde ich sie alle prüfen, wunderbar, und dann prüfe ich euch jeden zweiten, dritten Tag, um zu sehen, was ihr von diesen Silben noch wißt. Naja, am ersten Tag wissen sie noch fünfzig Silben, am nächsten Tag nurmehr dreißig, dann zwanzig etc. etc. So hat er diese Vergessenskurve bestimmt, und jedesmal hat er eingetragen, was am dritten, vierten, fünften Tag die Anzahl der Silben ist, an die sich die Studenten noch erinnern konnten. Wie ich das gelesen habe, da fiel mir auf: Da kann er gar nicht die Vergessenskurve gemessen haben, der hat gemessen, was passiert, wenn er den Schüler wieder abfragt. Aber jedesmal, wenn er fragt, lernen die ja wieder. Und deshalb muß ich da nicht nur eine Vergessensfunktion hineinschreiben, sondern eine Lernfunktion. Schreibe ich die Differentialgleichung für Vergessen und Lernen, stecke das hinein, und was soll ich Ihnen sagen: Wie aufgeklebt auf die Kurve ist die Ebbinghaus'sche Vergessenskurve.

Und da bin ich natürlich herumgelaufen und habe gesucht andere Vergessenskurven. Ein wahnsinniger englischer Professor, der hat die Vergessenskurve für Tintenfische gemessen. Das habe ich natürlich sofort genommen, und was hat sich herausgestellt? Der Tintenfisch vergißt so wie wir, aber lernt nicht so wie wir.

Die Vergessensfunktion ist biologisch universell. Die Lernfunktion ist verschieden für die verschiedenen Arten. Was ist gemeinsam bei all den verschiedenen Lebewesen: natürlich der Molekularaufbau, und da hab ich gedacht , vielleicht kann ich das auf die Eigenschaften der Makromoleküle zurückführen, und in der Tat, wir haben dann beobachtet, daß die Zerfallskonstante von großen biologischen Makromolekülen etwa in die Zeitspanne fällt, in der ich die Vergessensfunktion festgestellt habe.

So entstand die Schrift Das Gedächtnis, eine quantenmechanische Untersuchung, die 1948 bei Deuticke in Wien erschien. Der Vergessensvorgang wird hier als Rückkopplungsmechanismus beschrieben - während das Vergessen sich ebenso gesetzmäßig abspielt wie radioaktiver Zerfall, mit einer gewissen Halbwertszeit, ist das Erinnern abhängig vom aktiven Wiederholen dessen, was jemand schon weiß. Der Verleger ließ das Manuskript des unbekannten Autors von dem Physiker Erwin Schrödinger begutachten, der zu jener Zeit in Irland lebte. Schrödinger war von den Thesen Heinz von Foersters keineswegs überzeugt, konnte aber keinen Fehler in der mathematischen Beweisführung finden. Diese Expertise genügte Deuticke zur Veröffentlichung des Werks.

Eine Schulfreundin Mai von Foersters lebte als Ehefrau eines amerikanischen Börsenmannes in New York. Sie ermunterte Heinz von Foerster, nach Amerika zu kommen und sich dort nach einer Arbeit umzusehen. Sie sandte ihm das Ticket für eine Schiffspassage mit der Queen Mary, und so reiste Heinz von Foerster im Februar 1949 nach New York, mit seiner kleinen Schrift im Gepäck. Einer alten Jugendfreundin sandte er die Broschüre von New York aus zu, Maja Unna, die mit einem Pharmakologie-Professor an der Universität Chicago verheiratet war. Die reagierte sofort mit einer Einladung nach Chicago, sie hatte das Buch Warren McCulloch gezeigt, der die neuropsychiatrische Abteilung an jener Universität leitete. McCulloch ließ sich von Heinz von Foerster dessenTheorie erklären und war absolut fasziniert von ihr. Einige Monate zuvor hatte es in Amerika eine wissenschaftliche Tagung über das Gedächtnis gegeben. Dort waren eine Menge Daten vorgelegt worden, für die es jedoch keine passende Theorie gab. Heinz von Foersters theoretische Resultate schienen nun genau mit den empirisch erhobenen Daten übereinzustimmen. Warren McCulloch lud ihn daraufhin zu einer Konferenz ein, die zwei Wochen später in New York stattfand.

So bin ich wie durch ein Wunder in eine Gruppe hineingekommen, die nannte sich Circular causal and feedback mechanisms in biological and social systems, ,,Zirkular-kausale und Rückkopplungsmechanismen in biologischen und sozialen Systemen". Da war ich seit einer Woche in New York, mein Englisch hat aus 25 Worten bestanden, und da haben sie gesagt: Heinz, erzähl uns deine Quantenphysik des Gedächtnisses. Ich hab gesagt: Aber mein Englisch! Doch die haben gesagt, wir haben so viele Leute, die werden schon übersetzen. Also, wer ist da: John von Neumann, der die große Computerrevolution gemacht hat, Warren McCulloch, einer der führenden mathematico-biologisch-neurologischen Giganten, Gregory Bateson, seine Frau Margaret Mead, die Anthropologin, also diese ganze Gruppe. Da kommt der kleine Dings aus Wien da hineingestolpert und soll jetzt über seine Quantentheorie des Gedächtnisses reden. Also ich habe mit Händen und Füßen versucht, Englisch zu erfinden, und es ist halbwegs gelungen, es waren ja Gott sei dank ein paar deutsche Emigranten da, also wunderbar. Dann mußte ich hinaus, und dann haben sie mich wieder hineingerufen und da haben sie gesagt: Paß mal auf, lieber Heinz, was du erzählt hast, das war sehr gut, aber wie du es erzählt hast, das war entsetzlich. Wir haben nachgedacht, wie wir dir Englisch beibringen, so schnell wir können. Und da sind wir darauf gekommen, wir werden dich anstellen als den Herausgeber der Berichte von dieser Konferenz, wo Norbert Wiener und Gregory Bateson und Margaret Mead, diese perfekten Englischsprecher, die sprechen wie gedruckt, ihre Vorträge gehalten haben. Da habe ich gesagt: Jawohl, das mach ich gerne.

Aber da habe ich schon von Kybernetik gewußt und da habe ich gesagt: Ich kann ja nicht einmal den Titel Eurer Konferenz aussprechen, warum nennen wir nicht diese Konferenzen ,,Kybernetik". ,,Kybernetik" war vor ein paar Monaten von Norbert Wiener erfunden worden, und Norbert saß neben mir, und wie ich das vorschlage und alles applaudiert, war er so ergriffen, daß seine Kollegen sein komisches Wort ,,Kybernetik" einfach so übernehmen, daß er Tränen in seinen Augen gehabt hat, aufgestanden ist und hinausgegangen, um seine Ergriffenheit zu verstecken.

Heinz von Foerster blieb dann in Amerika und gab in den nächsten fünf Jahren die Berichte der Kybernetik-Konferenzen der Macy-Foundation heraus. Diese interdisziplinär angelegten Veranstaltungen wurden von der Creme de la creme der amerikanischen Wissenschaftler besucht: Neben Warren McCulloch, Norbert Wiener, Gregory Bateson, Margaret Mead und John von Neumann gehörten auch Julian Bigelow und Arturo Rosenblueth dazu, die mit Wiener zusammen im Jahre 1943 eine Studie über zweckbestimmtes Verhalten veröffentlicht und damit den Auftakt für alle späteren kybernetischen Untersuchungen geschlagen hatten. Ferner Heinrich Klüver, der Stephen Polyaks Arbeiten über den Gesichtssinn von Wirbeltieren fortsetzte und nicht zuletzt Claude Shannon, der Begründer der Informationstheorie.

Für Heinz von Foerster, der sich schnell mit den Arbeiten der Konferenzteilnehmer bekanntmachte, waren viele Denkansätze nicht ganz neu. Er war durch den Wiener Kreis an den formallogischen Bemühungen Rudolf Carnaps und an Bertrand Russells Principia Mathematica geschult worden und erkannte sofort Ähnlichkeiten, als er sich mit den logischen Berechnungen zu Funktionen des Nervensystems Warren McCullochs auseinandersetzte. Dieser Zusammenhang war auch ein Anstoß für John von Neumann gewesen, sich dem Kreis der Kybernetiker anzuschließen und über ,,sich selbst reproduzierende Automaten" nachzudenken.

Beschäftigen wir uns zunächst mit dem Begriff ,,Kybernetik".

Dies geschah zu Athen: Minos, der Eroberer Athens, hatte der Stadt auferlegt, jedes Jahr den schweren Tribut von 7 jungen Männern und 7 jungen Mädchen zu entrichten, die dem Minotauros zum Fraße vorgeworfen wurden, jenem Fabelungeheuer, das, halb Mensch, halb Stier, im Labyrinth von Kreta lebte und sich von Menschenfleisch ernährte. Hinter dem Schleier dieser Legende erkennen wir, daß auf Kreta der Stier ein geheiligtes Tier war, wie auch andere Spuren aus nebelhafter Vergangenheit bezeugen. So ist es glaubhaft, daß ihm Menschenopfer dargebracht wurden, und diese wurden natürlich einem besiegten Lande auferlegt.

Man weiß, daß Theseus sein Land von dieser Verpflichtung befreite, als er nach Kreta segelte und den ,,Minotauros töten" konnte. Als ,,Töter des Minotauros" wurde er der berühmteste der Könige von Athen, und vom 6. Jahrhundert vor Christi Geburt an wurde er in einem besonderen Kult verehrt. Jedes Jahr feierte man das Gedächtnis der Fahrt nach Kreta mit ausgiebigen Lustbarkeiten, die sich vom 6. bis zum 12. Pyaneprion (Oktober) erstreckten. Ihren Höhepunkt fanden sie in den ,,Kybernetien", das heißt, Festen, welche die Lotsen-Kunst verherrlichten und am Abend des sechsten Tages in Phaleron gefeiert wurden; der Legende nach waren sie von Theseus selbst eingesetzt worden zu Ehren der beiden Lotsen Nausithoos und Poeax, die ihn nach Kreta geführt hatten und denen er sogar eine Kapelle errichtet haben soll.

Der Begriff ,,Kybernetik" wurzelt also in der griechischen Bezeichnung des Steuermanns, kybernetes. Im Lateinischen wurde daraus gubernare, im Englischen governor. Die Lenkung eines Schiffes, eines Staates, einer Armee oder eines Organismus lassen sich zumindest dann unter einem einheitlichen Gesichtspunkt zusammenfassen, wenn die Orientierung an einem Ziel oder einem Zweck vorhanden ist.

Immer wenn es sich darum handelt, ein Ziel zu erreichen, findet man sich unausweichlich vor einem Problemtyp, bei dem nach stets gleichem Schema die Erforschung eines Vorgehens auf die Zukunft ausgedehnt werden soll. Ein System beherrschen heißt tatsächlich, ihm in einem bestimmten Augenblick einen wohldefinierten Zustand zuzuweisen und dabei alle anderen möglichen Zustände auszuschließen. In diesem Sinne können wir den Begriff der Steuerung vor allem auffassen als eine Neutralisierung vom Zufall abhängiger Handlungen, also als einen Kampf gegen den Zufall: Während das betrachtete System unter dem Spiel des Zufalls einen ,,beliebigen" Zustand hätte, will ihm der Lotse einen im voraus festgesetzten Zustand anweisen.

Die moderne Kybernetik, wie sie dann Norbert Wiener 1948 in seinem berühmten Buch präsentierte, speiste sich aus drei Quellen: der neurobiologischen Erforschung nervlicher Mechanismen, die zum Beispiel Warren McCulloch und Arturo Rosenblueth anstellten, der Entwicklung der Informationstechnik, an der unter anderem Claude Shannon maßgeblich beteiligt war, und der Mathematik. Hier kamen Anstöße von Alan Turing und John von Neumann, aber auch von Walter Pitts, der in Chicago bei Rudolf Carnap studiert hatte und gemeinsam mit Warren McCulloch an einer Theorie der neuronalen Netze arbeitete. Seit 1943 tauschten sie sich regelmäßig über diese unterschiedlichen Ansätze aus, auch über kriegswichtige Projekte, wie beispielsweise der Entwicklung von Feuerleitsystemen für die Flugabwehr. Nach dem Krieg zerfiel die Kooperation jedoch nicht, sondern wurde in Gestalt der von der Josiah Macy Foundation einberufenen Treffen fortgesetzt.

Für Heinz von Foerster war von Anfang an das entscheidende Konzept der Kybernetik die Zirkularität. ,,Zirkular kausal", so nannten die Macy-Konferenzen Prozesse, in denen ein Zustand sich selbst reproduziert. Auch hier fand Heinz von Foerster Anknüpfungspunkte an vertraute Auseinandersetzungen. In seinem Berliner Vortrag im Januar 1997 beginnt er seine Erläuterungen mit dem griechischen Philosophen Epimenides:

Da haben wir den Epimenides, der hat die Idee des Paradoxon erfunden - Sie erinnern sich: Jemand kommt rein, um die Kurzfassung zu machen, und sagt: Ich bin ein Lügner. Ja, was machen Sie mit einem Menschen, der von sich sagt: Ich bin ein Lügner? Glauben Sie ihm, dann hat er die Wahrheit gesprochen, oder glauben Sie ihm nicht, dann hat er gelogen. Und wenn er gelogen hat, also er ist kein Lügner, dann spricht er die Wahrheit etc. etc. - dieses Problem. Sie sehen, dieses Problem erzeugt einen Kreis. Wie Sie annehmen, er hat die Wahrheit gesprochen, hat er gelogen, wie Sie annehmen, er hat gelogen, hat er die Wahrheit gesprochen. Das hat den armen Philosophen von Aristoteles bis zu Bertrand Russell Zahn- und Kopfweh erzeugt. Sie haben nicht gewußt, was man damit machen soll. Der arme Aristoteles hat gesagt: Man kann nur Sätze als Sätze empfinden, wenn sie entweder wahr oder falsch sind. Aber ein Satz, der wahr ist, wenn er falsch ist, falsch ist, wenn er wahr ist - das können wir nicht machen. Und Bertrand Russell hat genau dasselbe empfunden. Der - wenn Sie seine Autobiographie lesen, werden Sie sich sehr amüsieren: In seinen Flitterwochen hat sich Bertrand Russell entschlossen, dieses Problem ein- für allemal aus der Welt zu lösen. Jeden Morgen ist er heruntergekommen mit Bleistift und Papier: Was machst du mit dem Problem? Und nach einer Woche oder zweien war er so wütend, da hat er gesagt: Ich bin einer der schlauesten Menschen in einer der cleversten Nationen der Welt, und ich beschäftige mich schon seit zwei Wochen mit dem blödesten Problem der Logik. Ich werde es verbieten! Und da hat er die große theory of types entwickelt, wo man nicht über sich selbst sprechen darf. Zum Beispiel das Wort ,,ich" ist nicht erlaubt. Denn wenn ich das Wort ,,ich" verwende, dann kann ich sagen ,,Ich bin ein Lügner", und das ist schon wieder verboten. Also: ,,Ich" darf man nicht benutzen, Selbstreflexionen sind nicht erlaubt: Russells Lösung für das Paradox. Kybernetik braucht das Paradox! Es erzeugt Zirkularität, auf die sich die ganze Kybernetik aufbaut.

Die Zirkularität von Bewegungen wird in der Kybernetik als Selbstreferenz beschrieben. Die Lenkung eines Schiffs über ein Steuerruder wird kontrolliert am Verhalten des gelenkten Schiffes, auf das wiederum die nächsten Lenkbewegungen reagieren. Statt einer Reaktion auf die Umwelt, das Meer, die Strömung, findet eine Reaktion auf den Aufbau des Schiffes statt. Verantwortlich für die Lenkbewegungen ist nicht irgendein Wellenschlag, sondern das auf der Bauart des Schiffes beruhende Verhalten. Dieses Phänomen kann jeder Autofahrer nachvollziehen, der sein Fahrzeug bei schneller Fahrt durch eine Kurve lenkt: Entscheidend für die Lenkbewegung ist nicht die Kurve, sondern das Kurvenverhalten des Fahrzeugs, das je nach Konstruktion über den Kurve hinaustreibt oder in sie hineindreht, Eigenschaften, die Fachleute als Über- bzw. Untersteuerung des Fahrzeugs bezeichnen.

Wenn Sie ein System haben, das operationell in sich geschlossen ist, was passiert in einem solchen System? Das hat man früher nicht ernstlich betrachtet. Und das Erstaunliche ist, daß, wie wir uns beschäftigt haben so in den fünfziger, sechziger Jahren mit der Frage: Was passiert, wenn so ein geschlossenes operatives System an sich selbst operiert, das Erstaunliche ist, daß die ganze Mathematik für diese Problematik schon an der Wende des 19. Jahrhunderts entwickelt war. Und zwar hieß das rekursive Funktionentheorie, und da waren die großen Mathematiker wie Hilbert und andere beteiligt. Da haben sich faszinierende Resultate ergeben. Es stellt sich heraus, wenn Sie solche Systeme, die operativ geschlossen sind, laufen lassen, dann zieht das System von irgendeinem Anfangswert in einen dynamischen Gleichgewichtszustand, den damals die großen Mathematiker ,,Eigenwerte" genannt haben. ,,Eigenwert" ist ein ganz plausibles Wort. Ich gebe Ihnen ein kleines Beispiel. Wenn Sie zu Hause einen kleinen Taschenrechner haben, der die Wurzel zieht, dann empfehle ich Ihnen, machen Sie eine rekursive Berechnung, das heißt, Sie geben irgendeine Nummer ein, sagen wir 100, dann drücken Sie auf die Wurzeltaste, bum, kommt 10 heraus, drücken Sie wieder die Wurzeltaste, kommt 3,16 heraus, dann drücken Sie wieder die Wurzeltaste, kommt ungefähr 1,7 raus, wieder die Wurzeltaste, 1,3, wieder, 1,15, ... 1,05, 1,02, 1,00, 1,00 ... - konvergiert auf 1! Und das ist ja ganz verständlich, wenn Sie sich erinnern: Die Wurzel aus 1 ist 1. Es muß auf diesen Eigenwert zurückkommen. Faszinierend ist: Was immer Sie für eine Wurzel ziehen aus einer beliebigen Zahl, die zehnte Wurzel, die fünfzehnte Wurzel, immer konvergiert diese zirkulare Operation auf den Eigenwert 1. Also 1 ist der Eigenwert jeder Wurzeloperation. Das heißt: Sie können 1 voraussagen, aber aus dem Erhalten von 1 können Sie nicht auf den Operator schließen, der diese 1 produziert hat. Und das ist jetzt sehr wichtig, wenn man das verstanden hat, dann wissen wir, daß viele von den zirkularen geschlossenen Operationsfunktionen nicht so sind, daß wir aus den Werten, die wir beobachten, auf die Operatoren schließen können, die diese Werte erzeugt haben.

Viele Wissenschaften haben einen Schutzpatron oder eine Göttin, die den eifrig strebenden Wissenschaftlern ihre Gunst schenken. Die Kybernetik als neue Wissenschaft entbehrte naturgemäß einen solchen Schutzpatron. Heinz von Foerster schlug daher einmal, einer Eingebung folgend, vor, den Maxwellschen Dämon zum Schutzpatron zu machen, denn die Kybernetik setze sich mit Regelungsfunktionen und Gleichgewichtszuständen auseinander, und der Dämon sei das Paradigma der Regelung. Der Dämon ist bekanntlich eine Erfindung des schottischen Physikers Maxwell, der den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik außer Kraft setzen sollte. Er hält sich an der Verbindungsstelle zwischen zwei Behältern mit verschieden warmen Flüssigkeiten auf und regelt den Fluß von Molekülen zwischen den Behältern so, daß Wärme vom kalten Behälter in den heißeren fließt und nicht umgekehrt, daß also die Entropie des Systems gemindert wird und seine Ordnung oder Unterscheidbarkeit steigt.

Die Arbeitsweise dieses Dämons verglich Heinz von Foerster mit der einer Maschine, wie sie von Alan Turing im Jahre 1936 in seinem bedeutenden Aufsatz On Computable Numbers entwikkelt wurde. Diese mit einer endlichen Anzahl von inneren Zuständen ausgestattete Maschine liest ein Symbol von einem Papierstreifen, schreibt ein Output-Symbol und verändert dann ihren inneren Zustand, bevor sie den gesamten Ablauf wiederholt. Damit kann sie prinzipiell alle auf dem Papierstreifen vorgeschriebenen Berechnungen durchführen.

Gäbe es einen Maxwellschen Dämon, so wäre er ein Regelungsmechanismus, der die Entropie verzögert. Gleiches läßt sich von allen Organismen sagen, die als Regelungssysteme ,,Entropieverzögerer" sind. Heinz von Foersters Pointe ist nun der Nachweis der funktionalen Gleichartigkeit des Maxwellschen Dämons mit einer Turing-Maschine. Die Regelung, die Entropieverzögerung und das Rechnen oder Ordnen nach Algorithmen sind das Wesen der Kybernetik. Der Vergleich der Turing-Maschine mit dem Maxwellschen Dämon verläuft folgendermaßen:

Erster Schritt: Maschine liest ein Symbol - Dämon beobachtet ein Molekül. Zweiter Schritt: Maschine vergleicht das Symbol mit dem internen Zustand - Dämon vergleicht die Geschwindigkeit des Moleküls mit einem internen Maßstab. Dritter Schritt: Maschine bearbeitet das Symbol bzw. das Band - Dämon arbeitet an der Öffnung, d. h. öffnet oder schließt sie. Vierter Schritt: Maschine verändert ihre internen Zustände - Dämon seinen internen Maßstab. Fünfter Schritt: Maschine und Dämon gehen zurück zu Eins.

Heinz von Foerster schließt aus diesem Vergleich, daß jedes Ordnungsproblem auf ein Rechenproblem reduziert werden kann, daß aber - und das ist sein weitestgehender Schluß - wir selbst entscheiden, ob überhaupt Ordnung oder Unordnung vorliegt, indem wir das Symbolsystem oder die Sprache wählen, womit Ordnung und Unordnung beschrieben werden. Wir haben diese Sprache nicht entdeckt, sondern erfunden, und somit - sind auch Unordnung und Ordnung unsere Erfindungen!

Seit 1951 arbeitete Heinz von Foerster als Professor für Signal Engineering an der University of Illinois in Chicago, von 1962 an war er zusätzlich bis zu seiner Emeritierung Professor für Biophysik. Zu Beginn seiner universitären Arbeit war er zuständig für Experimente mit Elektronenröhren, für die ein eigenes Institut bestand. Es war aber schon Anfang der fünfziger Jahre zu erkennen, daß es sich bei den Elektronenröhren um eine auslaufende Technologie handelte, weshalb sich Heinz von Foerster auch sobald wie möglich nach anderen Betätigungsfeldern umsah. Die Chance eines Studienjahrs, das er 1957 einlegen konnte, nahm er gerne in Anspruch. Er teilte es in einen halbjährigen Aufenthalt bei Warren MacCulloch am Massachusetts Institute for Technology und ein weiteres halbes Jahr bei Arturo Rosenblueth an dessen medizinischen Institut in Mexico. Warren McCulloch entwickelte zu jener Zeit bereits Überlegungen zur Künstlichen Intelligenz, und Arturo Rosenblueth, der Biologe war und in der Mitte der vierziger Jahre eng mit Norbert Wiener zusammengearbeitet hatte, machte ihn mit der neuen neurophysiologischen und Verhaltensforschung bekannt.

Seine grundlegende Position zu den neurophysiologischen Vorgängen faßt Heinz von Foerster so zusammen:

Ich wende mich [...] nun der Neurophysiologie zu, und erneut besteht meine erste Aufgabe darin, eine der heißgeliebten abwegigen Vorstellungen über das Funktionieren des Nervensystems auseinanderzunehmen, die Vorstellung nämlich, daß unsere Sinnesorgane (Augen, Ohren, Geschmacks- und Geruchssysteme ...) dafür verantwortlich sind, daß wir die Welt in all ihrer glorreichen Vielfalt und Fülle so sehen, hören und schmecken oder riechen, wie sie wirklich ist. Wie irreführend diese Auffassung ist, zeigt sich in einem fundamentalen Prinzip - in dem Prinzip der undifferenzierten Enkodierung -, das nicht nur für die Aktivität der peripheren Rezeptorzellen gilt (die Zapfen und Stäbchen in der Netzhaut des Auges, die Haarzellen entlang der Basilarmembran im inneren Ohr ...), sondern für die Aktivität aller Nervenzellen in unseren Körpern. (Bemerkenswerter allerdings als die Einfachheit dieses Prinzips ist die Tatsache, daß es zwar seit über einem Jahrhundert bekannt ist, daß seine außerordentliche Bedeutung für die Theorie der Kognition aber erst vor einigen wenigen Jahren entdeckt worden ist.) Die prägnanteste Formulierung dieses Prinzips lautet:

Die Reaktion einer Nervenzelle enkodiert lediglich die Größe ihrer Erregung, aber nicht die physikalische Natur des erregenden Agens.

Das Prinzip der undifferenzierten Kodierung, dem psychophysiologische Erkenntnisse von Gustav Theodor Fechner und Wilhelm Weber zugrundeliegen, die experimentell den Zusammenhang von physischen Reizen und Empfindungen untersuchten, war ein wesentlicher Motor für die Forschungsarbeiten und Experimente, die Heinz von Foerster an seinem 1958 in Chicago gegründeten Biologischen Computer-Laboratorium anstellen ließ. Dort wurden unter anderem die ersten Parallelcomputer entwickelt. Das erste dieser Geräte hatte den Namen NumaRete. Es war eine RETina, die NUMbers, also Zahlen, sah. In der ersten Version bestand es aus einem Quadrat von 20 mal 20 Photozellen, deren ,,post-retinales" Netz die Anzahl der aufgetretenen ,,Störungen" berechnete, das heißt, von Gegenständen, die sein Gesichtsfeld behinderten. Die Registrierung der puren Anzahl von Störungen war natürlich völlig unabhängig von der Form der Gegenstände und auch weitgehend unabhängig von der Intensität der Beleuchtung. John von Neumann besuchte das Laboratorium gerne, um mit NumaRete zu spielen und es mit einer Brezel zu verwirren, in deren Öffnungen er Geldstücke gedrückt hatte. Das erste Gerät konnte 50 Gegenstände wahrnehmen, eine spätere Version bis zu 400 Gegenstände in wenigen Millisekunden.

Das Biologische Computer-Laboratorium entstand genau zu der Zeit, als sich die Verfechter von Konzepten der Künstlichen Intelligenz von der Kybernetik abwandten und an den amerikanischen Universitäten eigene Projekte einwarben und eigene Institute gründeten. Heinz von Foerster war mit dem in den fünfziger Jahren herrschenden Selbstverständnis der Kybernetik nie zufrieden gewesen. Für ihn hatten seine Mitherausgeber der Protokolle der Macy-Konferenzen, Margaret Mead und Hans Lukas Teubner, einen gewissen Anteil an einer recht engen, pragmatischen und untheoretischen Selbstdefinition, die sich auf die Begriffe Rückkopplung und Steuerung - feedback und control - beschränkte. Für Heinz von Foerster waren die Geschlossenheit des Systems und der selbstreferentielle Mechanismus wesentliche Bausteine kybernetischer Theorien, die ja so auch schon bei Norbert Wiener angelegt waren. Die Kybernetik war für Heinz von Foerster die wissenschaftliche Bruchstelle, an der nicht mehr ontologische Gesichtspunkte - wie die Dinge sind - bestimmend waren, sondern ontogenetische - wie die Dinge werden.

In der amerikanischen Wissenschaftspraxis der fünfziger Jahre war die Kybernetik schließlich kaum etwas anderes als eine auf lebende Organismen angewandte Steuerungstheorie. Die Vertreter von Konzepten der Künstlichen Intelligenz - wie Seymour Papert und Marvin Minsky - warfen ihr eine romantische Sichtweise und das Fehlen einer mathematischen Fundierung vor. Heinz von Foerster, dessen Konzepte diesen Vorwürfen ohne weiteres standhielten, war von den Visionen der Künstlichen Intelligenz wenig fasziniert. Es war auch schwerlich möglich, künstliche Verstehenssysteme zu bauen, wenn das Verstehen des Verstehens selbst noch gar nicht begonnen hatte.

Durch einen Zufall lernte Heinz von Foerster Ende der fünfziger Jahre auf einem Kongreß in den Niederlanden Umberto Maturana kennen. Maturana und Gordon Pask waren dann unter den ersten Mitarbeitern des Biologischen Computer-Laboratoriums, in den sechziger Jahren kamen Lars Löfgren, Gotthard Günther, Ross Ashby und andere hinzu.

Ross Ashby entwickelte in Chicago zuerst ein Konzept der Selbstorganisation, das er Systeme ohne Input nannte. Dieses Konzept wurde dann von Umberto Maturana, Ricardo Uribe und Francisco Varela 1974 mit dem Namen Autopoiesis belegt. Autopoietische Systeme erzeugen ihre Strukturen und auch die Elemente, aus denen sie bestehen, im Zusammenwirken eben dieser Elemente selbst. Diese Systeme sind von der Umwelt abhängig, in Bezug auf ihre innere Organisation jedoch autonom und werden nicht durch sie determiniert.

Heinz von Foerster begleitete diese wiederum aus neurobiologischen Forschungen gewonnenen Systematisierungen durch Überlegungen über ihren Ordnungszustand. Wenn ein selbstorganisierendes System sich bei seiner Entstehung Energie und Ordnung aus seiner Umwelt einverleibt, in der prinzipiell Entropie herrscht, so ergibt sich innerhalb dieses Systems Ordnung häufig durch eine Störung, so wie ein Haufen einseitig magnetisierter Würfel eine Struktur bildet, wenn er in einer Schachtel gerüttelt wird. Dieses order from noise-Prinzip beweist seine Leistungsfähigkeit in der Informationstechnik: Unlesbare, weil zu schwache Signale werden verstärkt und mit einem starken Rauschen unterlegt, plötzlich sind sie deutlich differenzierbar und trotz der Störung lesbar. Dieses Phänomen ist heute unter der Bezeichnung ,,stochastische Resonanz" bekannt und wird vielfach in der Kommunikationstechnik genutzt.

Einen weiteren Beitrag zum Verständnis der komplexen Organisation von Systemen leistete Heinz von Foerster mit seiner Unterscheidung von trivialen Maschinen und nicht-trivialen Maschinen. Die kybernetische Diskussion war immer an einem modellartigen Nachbau des Nervensystems interessiert, kam aber selten über die Beschreibung der Funktionsweise einzelner Neuronen und neuronaler Reaktionen hinaus. Ernsthafte neurobiologische Forscher sind weit davon entfernt zu behaupten, sie hätten verstanden, wie Lebewesen denken. Die in Projekten unter dem Etikett der ,,Künstlichen Intelligenz" vorgeführten maschinellen ,,Denk"leistungen waren für sie wie für Heinz von Foerster immer eher Beispiele für die außerordentliche natürliche Intelligenz der in den Projekten beschäftigten Ingenieure als etwa tatsächlich Fälle von künstlicher Intelligenz. Die entscheidenden Probleme versucht Heinz von Foerster seit Mitte der sechziger Jahre immer wieder auf einer logisch-mathematischen Ebene verständlich zu machen, so auch in einem seiner Berliner Vorträge 1997:

Die triviale Maschine besteht darin, daß sie immer wieder dasselbe tut. Wenn man auf der einen Seite einen lebenden Sokrates hineinschiebt, ist das ,,Alle Menschen sind sterblich" eine triviale Maschine und kommt auf der anderen Seite ein toter Sokrates heraus. Das können Sie natürlich auf viele Weisen formulieren. Also, ich hab mir als kleiner Bub eine triviale Maschine gebaut, die hat ein Anagramm gerechnet. Ein A hat ein B gemacht, ein B ein C, ein C ein D, und ein D wieder ein A. Und diese kleine Maschine, auf ein Papier geschrieben, ich dazu benützt, um meine Liebesbriefe an meine kleine Freundin zu schicken, wir waren damals etwa 9. Und so haben wir uns Briefe zugeschickt, die konnten die Eltern natürlich nicht lesen, die haben keine Lösung für diesen Anagrammer gehabt. Warum nennt man das eine triviale Maschine? Nun ganz einfach, synthetisch ist sie ganz einfach zu bauen, und das analytische Problem, wie rechnet der, ist ja trivial. Geben Sie ihm ein A, schreibt der ein B, usw. In vier Schritten haben Sie diesen Anagrammer analytisch gelöst. Das ist der Grund, weshalb sich die westliche Menschheit in die trivialen Maschinen verliebt hat. Alles wollen wir haben, das eine triviale Maschine ist. Wenn Sie heute in ein Geschäft gehen und Sie wollen ein Auto kaufen - was wollen Sie von dem Auto? Daß es eine triviale Maschine ist. Also: Wenn Sie sich hineinsetzen und Sie fahren raus, und Sie steuern nach links, fährt das Auto nach links, steuern Sie nach rechts, fährt das Auto nach rechts, treten Sie auf die Bremse, wird das Auto langsamer, treten Sie aufs Gas, wird das Auto schneller: wunderbar. Dann steigen Sie eines Tages auf die Bremse, und es bleibt nicht stehen. Was machen Sie? Sie holen einen Trivialisateur, der macht wieder die Bremse, so daß sie wieder funktioniert. Das Schreckliche ist, daß Sie mit dieser Liebesaffäre auch mit Elementen umgehen wollen, die nicht trivial sind. Denken Sie doch an unsere Kinder, die absolut nicht-triviale Maschinen sind. Also man fragt: Wieviel ist zwei mal zwei, da sagt er: grün. So geht das nicht weiter, da schickt man ihn sofort in eine staatliche Trivialisationsmaschine, da wird er trivialisiert: zweimal zwei ist vier!

Nicht-triviale Maschinen sind nach diesem Verständnis beispielsweise auch Lebewesen, die zu Lernprozessen fähig sind. Sie verändern durch eine spezielle Operation einen inneren Zustand, wenn sie eine äußere Operation gemacht haben. Es stellt sich allerdings die Frage, wie lange solche Berechnungen dauern, und damit kommt der Unterschied von computable und computational ins Spiel, man könnte sagen, von logisch berechenbar und tatsächlich berechenbar.

Wie ist jetzt das analytische Problem? Ich kann eine Maschine bauen, einen Anagrammer, der diese vier Buchstaben vertauscht, aber nicht nur einfach nach der einen Regel A zu B, B zu C usw. sondern vielleicht auch A zu B, B zu D oder zu Z oder was immer Sie wollen, Sie haben sehr viele Möglichkeiten, 24 Möglichkeiten, solche Beziehungen herzustellen. Haben Sie einen Anagrammer, der durch diese verschiedenen Beziehungen wandern kann, er ist ganz leicht zu konstruieren, jetzt wollen Sie aber analytisch bestimmen, da stellt sich heraus, daß ein solcher Anagrammer, der innerlich verschiedener Zustände fähig ist, einfach analytisch nicht mehr gemeistert werden kann. Ich kann Ihnen die Zahlen sagen, also, ein vierstelliger Anagrammer A B C D kann mit 1054, also eine Zahl mit 54 Nullen, verschiedenen Anagrammen gemacht werden, es ist völlig hoffnungslos, den je bestimmen zu können. Wie Sie sich erinnern von unseren Freunden, den Kosmologen, das Alter der Welt ist nur 1024 Mikrosekunden alt, also wenn Sie eine Maschine haben, die jede Mikrosekunde eines dieser Anagramme löst, haben Sie überhaupt noch gar nicht angefangen, von dem Anagrammer etwas zu verstehen, den ich Ihnen hier gegeben habe, der A, B, C und D miteinander in Verbindung setzt. Das sind prinzipiell unlösbare Probleme.

Eine triviale Maschine ist also analytisch leicht bestimmbar, vergangenheitsunabhängig und voraussagbar. Eine nicht-triviale Maschine ist analytisch nicht bestimmbar, vergangenheitsabhängig und unvoraussagbar. Um die Verhältnisse noch komplizierter zu machen: Der amerikanische Mathematiker Arthur Gill wies nach, daß es funktionelle Organisationen solcher Maschinen gibt, die prinzipiell nicht durch eine endliche Folge von Berechnungen erschlossen werden können. Dieses Gillsche Unbestimmtheitsprinzip reiht sich in die grenzsetzenden Theoreme Gödels (Unvollständigkeitstheorem) und Heisenbergs (Unschärferelation) ein.

Wenn die uns umgebende und uns einschließende Welt in ihrem Wesen eine nicht-triviale Maschine ist, analytisch unbestimmbar, vergangenheitsabhängig und unvoraussagbar - wie verhalten wir uns dann ihr gegenüber? Heinz von Foerster beantwortet diese Frage mit seiner Epistemologie der Nicht-Trivialität.

Die in den vierziger Jahren entstehende Kybernetik beschäftigte sich mit Signalflüssen in motorischen, mit einem Sensor ausgestatteten Systemen. Die Fragestellung der Kybernetik schloß daher von vornherein nicht an die ontologische Tradition an, in der die Welt, ,,wie sie ist" erklärt wird. Die Kybernetik kümmerte sich um die Welt, die sich - im wörtlichen Sinne - be-greifen läßt. Da ein Organismus selbst nicht weiß und entscheiden kann, ob die Wahrnehmungswechsel, die ihm ein Sensor vermittelt und auf die er mit einer motorischen Aktivität reagiert, in ihm selbst oder in der äußeren Umgebung begründet ist, wird ein Beobachter notwendig, um diese Unterscheidungen zu treffen. Die Systematisierung von Beobachtungen, also das Verstehen ,,von etwas", konstituiert dabei die Kybernetik erster Ordnung. In seinen späteren Systematisierungen der im Biologischen Computer-Laboratorium gewonnenen Erfahrungen thematisierte Heinz von Foerster dann den Verstehensprozeß selbst. Er stellte also Beobachtungen an Beobachtern an und prägte dafür 1973 den Begriff Kybernetik zweiter Ordnung.

Die Kybernetik beobachtender (statt: beobachteter) Systeme beeinflußte seither das systemtheoretische Denken und prägt die Arbeiten der konstruktivistischen Schule ebenso wie die Überlegungen Niklas Luhmanns. Die Kybernetik zweiter Ordnung beschreibt die Transformationsregeln unserer Weltkonstruktion. Die Erfahrung ist dabei die Ursache, die Welt ist die Folge - anders als bei ontologisch orientierten Theorien, die eine Erkenntnis der Welt unter Ausschluß des Beobachters postulieren. Das Verstehen des Verstehens ist dabei die Leitlinie, die sich seit mehr als fünfzig Jahren durch die Gedankenwelt Heinz von Foersters zieht.

Heinz von Foerster reist auch noch im hohen Alter von fünfundachtzig Jahren von seinem Wohnsitz in Kalifornien aus buchstäblich rund um die Welt und vermittelt in Vorträgen und auf Symposien die Denkweisen der Kybernetik, des Konstruktivismus und des systemischen Denkens. Heinz von Foersters wissenschaftliches Werk besteht aus mehreren hundert Artikeln und seinen Vorträgen. Eine dickleibige Monographie hat er nicht verfaßt, sondern sich statt dessen immer wieder auf die gleichen Beschreibungen und auf eigene, oft anekdotisch vorgebrachte Beobachtungen bezogen. Damit verhält er sich sozusagen perfekt systemgetreu: der Beobachter steht im Focus, dem Erkenntnisfortschritt liegt Zirkularität zugrunde, und Erklärungen sind nichts als semantische Verknüpfungen von Beschreibungen. Nur gelegentlich faßte Heinz von Foerster seine Einsichten in verdichteter Form in mathematischen Notationen zusammen. Dabei ließ er sich offenbar anregen durch George Spencer Brown, der in seinem einflußreichen Werk Laws of Form die Formel prägte:

Mathematik ist ein Verfahren, immer mehr durch immer weniger zu sagen.

Doch selbst diese verdichteten wissenschaftlichen Beiträge belegen die Grundform des von-Foersterschen Denkens: Die Beschreibungen vollziehen sich in mehrfacher Kreisform und sind unterbrochen durch kurze anekdotische Abschweifungen. Eine ausführliche Abschweifung eines seiner Vorträge aus dem Januar 1997 galt der Figur des Beobachters, der ja seinen eigenen blinden Fleck nicht sieht, oder - wie Heinz von Foerster es immer wieder formuliert:

Wir sehen nicht, daß wir nicht sehen.

Diese Abschweifung, die gleichzeitig das Ende dieser Sendung bildet, ist ein Beleg für die These des polnischen Psychologen Jerzy Konorski, den Heinz von Foerster auch erwähnen wird, und der 1962 schrieb:

Es ist nicht so, wie wir aufgrund unserer Introspektion geneigt sind anzunehmen, daß der Empfang von Information und deren Nutzung zwei getrennte Prozesse sind, die auf beliebige Art miteinander kombiniert werden können; im Gegenteil, Information und ihre Nutzung sind untrennbar und bilden in Wirklichkeit einen einzigen Prozeß.

Welche Information eine Beschreibung enthält, hängt also von der Fähigkeit eines Beobachters ab, aus dieser Beschreibung Schlußfolgerungen zu ziehen. Für seine Beschreibungen weltberühmt wurde der russische Physiologe und Neurologe Iwan Petrowitsch Pawlow.

Wie Sie wissen, hat Pawlow die ersten großen Experimente gemacht mit den Hunden, wo er den abhängigen Reflex entdeckt hat. Seine Experimente sind so wunderbar beschrieben von ihm, er hat seine Experimentalbücher so genau geschrieben, daß seine Experimente immer wieder wiederholt werden können. Also: Da ist der Hund, den hat er auf den Tisch gestellt, da ist das große Fenster, da das kleine Fenster, der Assistent ist gekommen mit seinem weißen Kittel und hat dem Hund das Fleisch gezeigt; der Hund hat das Fleisch gesehen, und natürlich ist ihm das Wasser im Mund zusammengelaufen, in der Fachsprache heißt das: er hat ,,saliviert", und kaum hat der Hund saliviert, so hat man ihm das Stück Fleisch gegeben und gleichzeitig eine Glocke geläutet. Der Hund sieht das Fleisch, saliviert, Glocke geläutet. Das geht so eine Woche, wird so gemacht und wiederholt, zum Schluß kommt der Assistent herein, zeigt ihm gar kein Fleisch, klingelt die Glocke, und der Hund saliviert, das heißt, der glaubt, jetzt kommt das Fleisch. Gut, das hat er veröffentlicht, und dafür hat Pawlow den Nobelpreis bekommen. Ein polnischer Experimentalpsychologe hat gesagt, der Pawlow hat das alles so wunderbar aufgeschrieben, wir können diese Experimente jetzt wiederholen. So: Hund, großes Fenster hier, kleines Fenster da, Assistent kommt herein mit Fleisch, läutet die Glocke, das hat alles wunderbar funktioniert. Und jetzt kam das experimentum crucis: wo der Assistent reinkommt und nur mit der Glocke läutet. Konorski, der Experimentator, hat heimlich, ohne dem Assistenten etwas zu sagen, den Klöppel aus der Glocke genommen. Also der Assistent kommt rein, schwingt die Glocke, und: stumm. Der Hund saliviert! Also hat Konorski gesagt: Dieses Klingeln war ein Reiz für Pawlow, und nicht für den Hund! Und leider muß ich Ihnen sagen: Konorski hat dafür nicht den Nobelpreis bekommen. (Applaus)

Zitatnachweise

S. 2

Dirk Baecker, ,,Kybernetik zweiter Ordnung", in: Heinz von Foerster, Wissen und Gewissen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, S. 23.

S. 4

Heinz von Foerster, ,,Einführung in die 12-Ton-Musik", in: HvF, KybernEthik, Berlin: Merve 1993, S. 41 ff.

S. 5

Heinz von Foerster, ,,Von Pythagoras zu Josef Matthias Hauer", in: Jedermann, 1. Jg., Heft 1, Wien, 1. August 1947, faksimiliert in: HvF, KybernEthik, a. a. O., S. 55-58.

S. 11

John von Neumann, Die Rechenmaschine und das Gehirn, München: Oldenbourg 1960.

S. 12

Ducrocq, Entdeckung, S. 9

S. 16

Nach: Heinz von Foerster, „Unordnung/Ordnung: Entdeckung oder Erfindung?“, in: HvF, Wissen und Gewissen, a. a. O., S. 142.

S. 17

Heinz von Foerster, „Epistemologie der Kommunikation“, in: HvF, Wissen und Gewissen, a. a. O., S. 273 f.

S. 24

Jerzy Konorski, „The Role of Central Factors in Differentiation“, in: R. W. Gerard / J. W. Duyff (Hg.), Information Processing in the Nervous System, Bd. 3, Amsterdam: Excerpta Medica Foundation, S. 318-329.