Von der Keilschrift bis zum Internet
Verschwinden die Subjekte im Speicher?

Von Hermann Rotermund

Die folgenden Überlegungen zu einigen wichtigen Entwicklungsschritten in der Geschichte der Medien zielen auf eine Diskussion oft nicht hinterfragter Annahmen, die unser Medienverständnis und Medienhandeln bestimmen. Es geht dabei weniger um Antworten oder Thesen als darum, das Material zu benennen und freizulegen, das für eine weitergehende Diskussion notwendig und nützlich wäre.

Mediengeschichte

„Mediengeschichte“ – das ist bislang keine Wissenschaftsdisziplin, aus deren Arsenalen man sich mit Handwerkszeug und Material versorgen könnte. Die Medien sind so alt wie die Menschheit selbst, aber ihre Geschichte ist weitgehend unstrukturiert und ungeschrieben. Das hängt damit zusammen, daß es über die Bedeutung der Medien in der Lebenswelt der Menschen bislang noch sehr viele Unklarheiten gibt.

Was sind „Medien“? Ein „Medium“ ist kein „Mittel“, obwohl uns für diesen Fall nach den Definitionen des Grimmschen Wörterbuchs eine ganze Palette von Bedeutungen zur Verfügung steht – der mittlere Teil eines Raumes oder eines Körpers, zeitliches Mittel, „das gleichmäßige innestehen zwischen zwei entgegengesetzten begriffen“, „der zwischenraum zwischen zwei trennenden gebieten“. In Physik und Chemie ist das Medium oder Mittel der Träger der zu betrachtenden Vorgänge, z. B. ist die Luft die Trägerin der Schallwellen. Im Okkultismus ist das Medium ein Mensch, durch den ein Verstorbener sich äußert. (Solch ein Medium ist an der Botschaft, die aus dem Jenseits kommt, ja meist nicht wirklich unbeteiligt.) Mittel kann auch Vermittlung im Sinne von Schiedsspruch sein, zudem Hilfsmittel, Heilmittel, Besitz, Nahrungsmittel, ein Stoff, der das Licht bricht und ablenkt.

Schön ist schließlich eine Definition von Kant: „Mittel sind alle Zwischenursachen, die der Mensch in seiner Gewalt hat, um dadurch eine gewisse Absicht zu bewirken“[1]. Davon sind jedoch die Medien, die wir hier betrachten wollen, weit entfernt.

Ein Medium ist auch kein „Mittler“ – mediator, Schiedsmann, der eine Versöhnung bewirkt.

Die Medien, mit denen wir heute zu tun haben, sind – das ist hier die These – eigenständige sozial und technisch integrierte Systeme, nach deren Gesetzmäßigkeiten Kommunikation zustandekommt und geformt wird. Sie sind keine ideellen Verfahren oder Gegenstände, die in die Ideengeschichte gehören. Die Verfahren der Medien besitzen eine Materialität, sie basieren auf Technik.

Auf die Beschreibungsmodelle für die Kommunikation, die in den Medien stattfindet (das bekannte Sender--Empfänger-Modell) komme ich später noch zu sprechen, hier nur ein kleiner Stromstoß vorweg:

In der Kommunikation, von der das gängige technische Kommunikationsmodell handelt, kommen Menschen überhaupt nicht vor. Medien erfüllen keine Kommunikationsanforderungen, die vor ihnen und unabhängig von ihnen bestanden haben, sondern – das klingt zugegebenermaßen paradox – reproduzieren diese Anforderungen höchstens im nachhinein. Weil etwas technisch machbar war, entstand auch das Bedürfnis, es zu machen: telephonieren, Schallplatten hören, Videokonferenzen abhalten.

Technikgeschichte

Mediengeschichte ist immer Technikgeschichte und von dieser untrennbar. Für das Fernsehen zum Beispiel braucht man auf Seiten des Senders wie des Empfängers Strom, Widerstände, elektrische Schalter (in Form von Röhren oder Transistoren) und Schaltpläne. Zur Herstellung von Röhren braucht man Verfahren der Vakuumierung, zur Herstellung von Transistoren und Halbleiterchips sauberste Produktionsbedingungen und äußerste Genauigkeit in mikroskopischen Dimensionen. Für die Telegraphie brauchte man elektrische Relais, für einen Edisonschen Phonographen Spulen und so fort. Der Buchdruck Gutenbergs basierte auf der Verfügung über bestimmte Metalle, das Wissen um Legierungen und Schmelzzeitpunkte und einer wesentlichen technischen Erfindung, der des Handgießinstruments. Der „Druck mit beweglichen Lettern“, wie Gutenbergs Innovation manchmal definiert wird, war tatsächlich an verschiedenen Orten der Welt bereits probiert worden, am entwickeltsten übrigens in Korea – allerdings meist mit hölzernen, leicht abnutzbaren und schwer reproduzierbaren Lettern.

Die Technikgeschichtsschreibung, durch die wir etwas über die Mediengeschichte erfahren könnten, weist große Lücken auf. Meist ist sie – nach dem Muster von Stefan Zweigs „Sternstunden der Menschheit“ - die Geschichte der Ideen großer Männer. Nach systematischen Geschichten der naturwissenschaftlichen Erkenntnis forscht man in unseren Bibliotheken vergeblich. Natürlich gibt es Ausnahmen, die rühmlichste ist Pierre Duhem, der sich zu Anfang dieses Jahrhunderts ein 10-bändiges „Weltsystem“ abrang. Wir haben also das Problem des geisteswissenschaftlichen Mißverständnisses eigentlich technikgeschichtlicher Entwicklungen. Dieser Mangel wird noch verstärkt durch das Fehlen einer substantiellen Geschichtsschreibung der Naturwissenschaften, besonders der Physik. Über bestimmte Themen, wie die Geschichte der Elektrizität, gibt es seit Jahrzehnten keine zusammenhängenden Darstellungen; es fehlt an Biographien über naturwissenschaftliche Protagonisten des 19. Jahrhunderts wie Ampère, Faraday, Charcot, Boltzmann. Eine Medienwissenschaft, wie sie in Ansätzen seit einigen Jahren entsteht – zu verweisen ist beispielsweise auf das Institut von Friedrich Kittler an der Humboldt-Universität in Berlin – muß sich also zum Teil ihre Voraussetzungen selber schaffen, indem sie die Arbeit tut, die in anderen Wissenschaftszweigen versäumt wurde.

Was unter diesen Umständen hier zusammengetragen werden kann, ist notwendigerweise Stückwerk. Ich werde einige Entwicklungsetappen und Wendepunkte der Mediengeschichte umreißen und, daran anknüpfend, Thesen zur derzeitigen Diskussion über unser Verhältnis zu den Medien bzw. über die menschliche Selbsterkenntnis formulieren.

Mnemonik - Ars memoriae

Stellen Sie sich einmal vor, sie lebten in einer schriftlosen Kultur. Niemand besitzt Schriftkenntnis, es existieren keine schriftlichen Aufzeichnungen. Ohne Schrift haben die Wörter ihre visuelle Präsenz nicht mehr, die sie für viele von uns haben – sei es als ständiger „Lauftext“ vor dem sogenannten geistigen Auge, sei es als Wahrnehmung von Beschriftungen wie „Esso“, „Einbahnstraße“ oder „0,3 l“. Die Wörter einer schriftlosen Kultur sind ausschließlich Klänge. Sie haben eine Präsenz und verklingen. Man kann sie sich in Erinnerung „rufen“ – aber man kann sie nirgendwo „nachschlagen“.[2]

Ein Laut läßt sich nicht anhalten oder konservieren (außer mit technischen Hilfsmitteln). Ein Wort ist ein Ereignis. Wort und Ereignis haben im Hebräischen dieselbe Benennung.

Die lautliche Gebundenheit der Wörter bestimmt in oralen Kulturen nicht nur die Ausdrucksweisen, sondern auch die Denkweisen. Wie organisiert eine orale Kultur ihr Gedächtnis? Wie lassen sich komplexe Gedankengänge gegen die alles beherrschende Tendenz des Verklingens aufbewahren? Der erste und unabdingbare Faktor für die Aufbewahrung von Gedächtnisinhalten ist die Wiederholung im Gespräch, also die Kommunikation mit anderen. Damit man verlustfrei und ohne übermenschliche Mühe ins Gedächtnis zurückrufen kann, was man mit mühevoller Gedankenarbeit aneinandergereiht hat, muß man – so sagt der Oralitätsforscher Walter Ong – memorierbare Gedanken denken.[3] Alle oralen Kulturen haben entwickelte mnemonische Muster ausgebildet, die dazu dienen, Gedächtnisinhalte nach rhythmischen Mustern, in der Form von Satz und Gegensatz, in Formeln und Sprichwörtern, Aufzählungen, standardisierten Anordnungen (Versammlung, Festmahl, Zweikampf usw.) memorierbar zu machen und zu erhalten. „Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein.“ (rhythmische Formel)

Der Zwang zum Memorieren legt in den oralen Gesellschaften die gesamte intellektuelle Organisation von Erfahrung fest. Redundanz und die Bestätigung des Immergleichen ist gefragt, nicht Innovation, Originalität oder Vielfalt.

Die antiken Kulturen bildeten die Mnemotechnik zu einer Kunst aus, die später den lateinischen Namen ars memoriae, Gedächtniskunst, erhält. Als einer ihrer Begründer gilt der griechische Dichter Simonides, über den Cicero in De oratore folgende Anekdote erzählt:

Bei einem Festmahl, das von einem thessalischen Edlen namens Skopas veranstaltet wurde, trug Simonides zu Ehren seines Gastgebers ein lyrisches Gedicht vor, das auch einen Abschnitt zum Ruhm von Kastor und Pollux enthielt. Der sparsame Skopas teilte dem Dichter mit, er werde ihm nur die Hälfte der für das Loblied vereinbarten Summe zahlen, den Rest solle er sich von den Zwillingsgöttern geben lassen, denen er das halbe Gedicht gewidmet habe. Wenig später wurde dem Simonides die Nachricht gebracht, draußen warteten zwei junge Männer, die ihn sprechen wollten. Er verließ das Festmahl, konnte aber draußen niemanden sehen. Während seiner Abwesenheit stürzte das Dach des Festsaals ein und begrub Skopas und seine Gäste unter seinen Trümmern. Die Leichen waren so zermalmt, daß die Verwandten, die sie zur Bestattung abholen wollten, sie nicht identifizieren konnten. Da sich aber Simonides daran erinnerte, wie sie bei Tisch gesessen hatten, konnte er den Angehörigen zeigen, welches jeweils ihr Toter war. Die unsichtbaren Besucher, Kastor und Pollux, hatten für ihren Anteil an dem Loblied freigebig gezahlt, indem sie Simonides unmittelbar vor dem Einsturz vom Festmahl entfernt hatten.[4]
Die Mnemonik, erfahren wir aus diesem Beispiel, arbeitet also mit Orten, deren Reihenfolge memoriert wird, und geistigen Bildern, die sozusagen an die Orte geheftet werden. Cicero weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß nicht nur die Ordnung für das Gedächtnis wichtig ist, sondern daß Simonides' Leistung auf der klugen Ausbeutung unseres leistungsfähigsten Sinnes beruht, des Gesichtssinnes. Er sagt, man könne „etwas am leichtesten behalten, wenn das, was man durch das Gehör oder durch Überlegung aufnimmt, auch noch durch die Vermittlung der Augen ins Bewußtsein dringt.“[5]

Die Gedächtniskunst ist eine Art inneres Schreiben und Bildererzeugen. Sie basiert auf Selbstdisziplin und unermüdlichem Training. Schon in der Antike gab es Einwände gegen diese Gedächtnisübungen, die uns durchaus vertraut vorkommen: All diese Orte und Bilder, die jemand zu memorieren sich bemüht, deckten das Wenige, was man auf spontan im Gedächtnis behält, unter einem Schutthaufen künstlicher Bilder zu, behaupten diese Einwände – die nie bewiesen werden konnten, ebenso wenig wie der verdummende Einfluß regelmäßigen ausgiebigen Fernsehens.

Mit der Gedächtniskunst und ihrem Kampf gegen die Flüchtigkeit der Erinnerung beginnt der Prozeß der Erzeugung von permanenten Speichern für Gedächtnisinhalte. Noch ist dieser Speicher intern, im individuellen Gedächtnis eines Menschen verankert, aber er ist bereits haltbarer als die nur situativ in der Kommunikation wieder hervorbringbare Erinnerung der frühen oralen Kulturen.

Die scriptographische Epoche

Der Übergang zu einer von Schriftlichkeit bestimmten Kultur fand nicht ohne Kämpfe statt. Plato beispielsweise wollte die schreibenden Poeten und Politiker aus seinem (von ihm ersonnenen, idealen) Staat weisen. Er argumentiert folgendermaßen:
(Die Schrift) wird Vergessenheit in den Seelen derer schaffen, die sie lernen, durch Vernachlässigung des Gedächtnisses, aus Vertrauen auf die Schrift werden sie von außen durch fremde Gebilde, nicht von innen aus Eigenem sich erinnern lassen. Also nicht für das Gedächtnis, sondern für das Erinnern hast du ein Elixier erfunden. Von der Weisheit aber verabreichst du den Zöglingen nur den Schein, nicht die Wahrheit; denn vielkundig geworden ohne Belehrung werden sie einsichtsreich zu sein scheinen, während sie großenteils einsichtlos sind und schwierig im Umgang, zu Schein-Weisen geworden statt zu Weisen.[6]
Daran mag etwas sein: Die alte, situativ ausgerichtete orale Kommunikation und ihre hochgezüchteten künstlichen Techniken des Erinnerns sind durch die Bequemlichkeit der neuen alphabetischen Schreibtechniken von Zerrüttung bedroht. Interessanterweise hielt sich die Gedächtniskunst bis zum Beginn des Gutenbergzeitalters und erlebte durch Giordano Bruno Ende des 16. Jahrhunderts eine letzte Blüte. Sie überdauerte also die gesamte scriptographische Epoche, die durch handschriftliche Aufzeichnungen bestimmte Ära der Schriftkultur.

Die zitierte Klage Platos über den Einbruch der Schriftlichkeit in eine von mündlicher Kommunikation bestimmte Kultur wurde schriftlich verfaßt und verbreitet; so wie wir heute die Weizenbaums und Postmans mit ihren allfälligen Klagen über die Auslieferung der menschlichen Seele an den Moloch Technik als häufige Gäste in Fernsehtalkshows und sicher auch schon mit Homepages im World Wide Web erleben können.

Das Schriftzeichen entlastet das kollektive Gedächtnis: Woran man sich nicht permanent erinnern will, das schreibt man auf, deponiert es auf Steinen, Tonscherben, Tierhäuten oder Papyri; etwas aufzuschreiben, ist eine schonende, weil nur als vorläufig empfundene und wiedergutzumachende Methode des Beiseitestellens, Abschiebens und Vergessens. Wer den Namen des Toten auf einen Grabstein ritzt, dem spukt er nicht mehr permanent im Kopf herum, schon das Material des Steins scheint die Dauer des Namens besser zu verbürgen als das vergängliche Bewußtsein der Überlebenden.

Die Schrift ist ein Speicher für Namen, an die sich keine Bilder mehr heften. Das betrifft zumindest die registrierenden Gattungen der Schrift, die sich auf Urkunden, Grabsteinen, Rechnungen und Botschaften finden. Die in Schriftform überlieferte Poesie und andere literarische Gattungen übernehmen in verwandelter Form die Funktion der oral überlieferten Mythen, mit denen Personen über die Beschränkung von Zeit und Raum in das kollektive Gedächtnis einer Kultur eingeprägt wurden.

Die Schriftkultur ist gekennzeichnet durch einen Mobilitätsgewinn: sie kann auf den engen gesellschaftlichen Zusammenhang von Redenden und Zuhörenden verzichten. Der Schreibende entwickelt sich zum willensmächtigen, allerdings streng disziplinierten und isolierten Subjekt. Die Schriftkultur ächtet die Mnemotechniken und ihre Primitivismen (Wiederholung, Training). Sie besitzt den körperäußeren Speicher der alphabetischen Schrift (700.000 Schriftrollen in der legendären Bibliothek von Alexandria um die Zeitenwende). Die Produkte ihres Schreibens zeichnen sich aus durch Präzision, Anpassungsfähigkeit und Originalität. Sie führt damit neue soziale Werte in den gesellschaftlichen Zusammenhang ein. Erst das Schreiben kann komplizierte analytisch-planerische Prozesse adäquat wiedergeben. Es bewirkt daher einen Aufschwung der Ökonomie und des Wissenschaftsbetriebs. Die schriftliche Äußerung schließt die Anwesenheit des Lesers eher aus als ein, sie ist getrennt vom Gegenstand, von der Lebenswelt und vom Schreibenden selbst. Abstraktion und Objektivität werden gefördert.

Der letzte Aspekt ist karikaturhaft ausgewalzt in Rousseaus Briefroman Julie oder Die neue Héloïse. Darin wird die Geschichte zweier Liebender erzählt, deren Leidenschaft sich angesichts vordergründiger Verbote und sozialer Hindernisse ungezügelt nur in der Schrift ausdrücken kann. Im wirklichen Leben gibt es aber durchaus Begegnungen der Beiden, die allerdings zum Erstaunen der Leser fast uninteressiert abgewickelt werden. Ihre Leidenschaft läßt sich ausschließlich im Medium des Briefes realisieren. Der Liebhaber Saint-Preux schreibt noch hastig an seinem Brief, während die Adressagtin buchstäblich schon vor seiner Türe steht; kaum haben sie sich voneinander verabschiedet, eilt er wieder an seinen Schreibtisch, um weiter seiner Passion zu frönen. Die Trennung der Körper „ist die Konsequenz eines Begehrens, dem die Schriftlichkeit wesentlich ist, so daß die Personen fast widerwillig die Feder aus der Hand legen, um sich ans Leben zu machen.“[7]

Ein schriftlich verfaßtes Gedächtnis muß wiederauffindbare Inhalte aufweisen. Der Schriftspeicher muß adressierbar sein. Die Schriften erhalten Titel und weitere Ordnungsmerkmale zugewiesen, um – zusammengefaßt in einer Bibliothek – diese Qualität unter Beweis stellen zu können. Buch, Kapitel, Abschnitt, durchgezählte Abbildungen (Figuren oder Tafeln genannt) bilden das scriptographische Ordnungssystem. Ihm fehlt allerdings die eindeutige Referenzierbarkeit des gedruckten Buchs, da die Zeilen- und Seitenverläufe der handschriftlichen Kopien eine individuelle Streuung aufweisen.

Die Schrift ist vermutlich die bis in unsere Tage wichtigste technologische Errungenschaft der Menschheit. Sie ermöglicht eine Exaktheit und Eindeutigkeit und gleichzeitig eine Komplexität ihrer Aussagen, die das Potential oraler Vorführungen bei weitem übertreffen. Die Schrift trägt Aussagen über individuelle, zeitliche und räumliche Begrenzungen hinaus und erzeugt, da die Sprache ja jetzt zur Vermittlung keines lebendigen körperlichen Gegenübers mehr bedarf, eine Denkstruktur, die zwischen Körper (Materie) und Geist, zwischen Natur und Kultur trennt. (Übrigens auch zwischen weiblich und männlich: der Frau wird die sterbliche Materie zugeordnet, dem Manne der unsterbliche Geist.)

Die typographische Epoche (das Gutenberg-Zeitalter)

Worin bestand die typographische Wende?

Der Buchdruck war nicht nur eine medientechnische Umwälzung, er schuf die Voraussetzungen für die moderne Wissenschaft. Der Buchdruck war die erste vollständige Mechanisierung einer Handarbeit. „Die Botschaft des Drucks und der Typographie ist in erster Linie die der Wiederholbarkeit.“[8] Anders als bei den Stempeldruckverfahren, die zur massenhaften mechanischen Reproduktion von Handschriften ausgereicht hätten, wird durch Gutenberg die ganze Person des Schreibers durch eine Maschine ersetzt. Von Michael Giesecke erfahren wir, daß Gutenberg die Idee hatte, die Harmonie der bereits bis ins Feinste normierten Handschrift durch die Harmonie der beweglichen Lettern zu überbieten. Er schuf daher etwa 300 verschiedene Zeichen statt der zum Druck aller zur erwartenden Texte vielleicht notwendigen 80 bis 90. Gutenbergs 42-zeilige Bibel ist nicht einfach das Denkmal der typographischen Wende in der Mediengeschichte, sie ist zugleich der Höhepunkt und Endpunkt der scriptographischen Tradition.[9]

Die schnelle und billige Vervielfältigung von Büchern und die Standardisierung von Texten machten das auf der Welt vorhandene Wissen im 15. und 16. Jahrhundert ubiquitär in Bibliotheken verfügbar. Nicht nur Bibeln und religiöse und kanonische Texte wurden gedruckt, sondern alle verfügbaren Texte der philosophischen und naturwissenschaftlichen Tradition. Darüber hinaus entstanden praktische Anleitungen für gewerbliche Disziplinen, die auf diese Weise ihre Standards vor-geschrieben bekamen. Die Handelszentren erzeugten einen hohen Bedarf an normgerechten schriftlichen Materialien – Rechnungen, Verträge, Ablaßzettel, täglich veränderte Verordnungen.

Die Gutenberg-Wende in der Schriftkultur war die Voraussetzung für die Wirksamkeit der kopernikanischen. Sie diente nicht nur den Wissenschaften mit der Zusammenfassung allen bekannten Wissens, sondern erzeugt darüber hinaus neue Wissenschaftszweige, z. B. die Botanik, deren Pflanzendarstellung der Buchdruck jetzt eine Eindeutigkeit und Genauigkeit abverlangte, die sich bislang mit der künstlerischen Willkür und Beliebigkeit der Zeichner und Maler vermengte. Dürers physiognomische Holzschnitte, die allesamt für Buchveröffentlichungen angefertigt wurden, waren im Verein mit seinen theoretischen und didaktischen Schriften maßstabsetzend für die Verbreitung der wissenschaftlichen Naturerkenntnis.

Johannes Kepler faßte die neuen Errungenschaften im Jahre 1604, gerade 150 Jahre nach Gutenbergs Anstoß, so zusammen:

Nach der Geburt der Typographie wuden Bücher zum Gemeingut, von nun an warf sich überall in Europa alles auf das Studium der Literatur, nun wurden so viele Universitäten gegründet, erstanden plötzlich so viele Gelehrte, daß bald diejenigen, die die Barbarei beibehalten wollten, alles Ansehen verloren ... Befreien wir nicht alle alten Schriftsteller, soweit sie erhalten sind, durch die Buchdruckerkunst zum Tageslicht? ... Von Schriftstellern aber in allen Fakultäten wird besonders nach dem Jahr 1563 Jahr für Jahr eine größere Zahl gedruckt als es in den 1000 Jahren davor überhaupt gegeben hatte. Durch sie ist heute eine neue Theologie entstanden, eine neue Jurisprudenz, und die Paracelsisten haben die Medizin, die Kopernikaner die Astronomie erneuert.[10]
Für manche war der Buchdruck ein göttliches Geschenk, mit Sicherheit war er die Voraussetzung für den Beginn der Aufklärung. Er war aber auch Anlaß zu Zensur, zur Menschenverbrennung (Giordano Bruno, 1600) oder zumindest zur Klage über die Unverdaulichkeit großer Lektüremengen. Viele Gelehrte waren zudem besorgt, weil nun jeder Tölpel aus den Wörterbüchern und Lexika sein Wissen sich zusammenklauben, kompilieren und für sein eigenes ausgeben könnte.

Diese Bedenken wurden selbstverständlich kurz nach der typographischen Wende gedruckt verbreitet.

Kontemplation und Langsamkeit, bislang mit der Lektüre, die eine (oftmals in Klostermauern stattfindende) einsame und nicht zuletzt auch teure Veranstaltung war, wichen der schnellen Verbreitung von Druckschriften auf dem Markt. Die Lektüre, und nicht nur die der Flugschriften des Bauernkrieges und der beginnenden Volksaufklärung, wurde zu einem öffentlichen Ereignis. Der Buchdruck ist die technologische Voraussetzung für die Entstehung der vielbeschworenen bürgerlichen Öffentlichkeit in Europa.

Das gedruckte Buch erst wurde zum universalen externen Gedächtnis der Menschheit. Nicht nur in dem Sinne, daß alles verfügbare Wissen gedruckt wurde, sondern auch in dem, daß jeder Wissensbestandteil nun mit Titel, Auflage, Band und Seitenzahl weltweit eindeutig referenzierbar wurde. Das Buch verweist auf die Bibliothek wie heute der einzelne Computer auf das Netz.

Teil 1



Die Entwicklung der technischen Medien seit 1800

Die Entwicklung der technischen Medien beginnt um 1800 in Frankreich unter Napoleons Einfluß. Die Vereinheitlichung der Maße und Gewichte, der Währung, der Sprache, der Gesetzgebung gab den Informations- und Kommunikationstechnologien außerordentliche Entwicklungschancen. Dazu kamen die militärischen Bedürfnisse, die beispielsweise zur Einführung des Flügeltelegraphen führten. Dieser Telegraph – ab 1794 wurde das Netz errichtet und rasch ausgebaut – sollte nach Vorschlag seines Erfinders Chappe auch kommerzielle Zwecken dienen, wie der Übermittlung von Wechselkursen und der Ankündigung des Einlaufens von Schiffen. Realisiert wurde aber nur die Verbreitung der Ergebnisse der Nationallotterie.

Der Telegraph erzeugte ein eigenes Netz von Stationen, zwischen denen Blickkontakt möglich war. Das telegraphische Netz war aber beileibe nicht das erste Mediennetz. Die Postkutschennetze, die Distribution von Büchern und Drucksachen und die Verflechtung wissenschaftlicher Institutionen überzogen Europa und große Teile des Erdkreises bereits seit Jahrhunderten. Mit der Gründung des Telegraphennetzes, der das Eisenbahnnetz, die Kanalisationen, die Elektrizitätsnetze, das Telephonnetz folgten, wird die Vernetzung allerdings zu einer unabdingbaren Eigenschaft der Informationstechnik.

Die Elektrizität gab der witterungsabhängigen Telegraphie neue Impulse. In den 1740er Jahre wurde bereits mit der Leidener Flasche experimentiert, einem Kondensator, also einem Stromspeicher. Im Jahr 1800 stellte Alessandro Volta die erste Batterie her, die berühmte Voltasche Säule. Der dänische Physiker Christian Ørsted entdeckte um 1820 den Elektromagnetismus, also die Ablenkung von Magnetnadeln durch elektrischen Strom. Ampère erkannte sofort die Möglichkeiten dieser Entdeckung, überließ aber anderen die praktische Realisierung. Unter anderen bauten die Deutschen Sömmering und Gauss sowie die Engländer Cooke und Wheatstone an Versuchsanordnungen. Ende der 1830er Jahre gab es mehrere funktionierende Systeme, 1843 wurde der Cookesche elektrische Telegraph in Verbindung mit einer englischen Eisenbahnlinie öffentlich vorgeführt und erprobt, 1844 verband Samuel Morse die Städte Washington und Baltimore, 1850 wurde eine Ärmelkanal-Verbindung hergestellt, 1858 das erste transatlantische Kabel gelegt, ab 1860 war London mit Indien verbunden.

Das elektrische Telegraphennetz, meist in Kooperation mit den Eisenbahngesellschaften aufgebaut (eine Verbindung, die wir ab 1998 beim Fall des Fernmeldemonopols der Post wahrscheinlich wiedererleben werden), wurde von vornherein auch kommerziell genutzt, vor allem zur Übertragung von Börsenmeldungen.

Die Telegraphie beginnt die gedruckte Welt Gutenbergs zu unterhöhlen. Der Weg läuft über die einfachen Stromschlüssel des Historienmalers Samuel F. B. Morse, der seine Impulstaste 1837 an die Staffelei seines Ateliers angeschlossen hatte, – von da über die Schreibmaschine von Remington & Son 1874, die mit einem Typenhammer die nötigen 26 Buchstaben auf die verschiebbare Papierwalze bringt (eine Revolution des Schreibens), bis hin zur universellen diskreten Maschine Alan Turings 1937, die jedes Alphabet und jeden denkbaren Algorithmus auf den virtuellen Papierstreifen der theoretischen Turing-Maschine bringen kann und so nichts weniger als die Architektur unserer heutigen Computer beschrieb. Von der Entwicklung der Telegrafie zieht sich eine durchgehende Spur zum Universalmedium Computer.

„Ein Pferd frißt keinen Gurkensalat“ (Version Philipp Reiß 1861) oder „Mr. Watson, kommen Sie einmal her, ich brauche Sie“ (Version Graham Bell 1876) – das sind die jeweils ersten Sätze, die bei der öffentlichen Vorführung von Telephonen gesprochen wurden. Ende der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts begann die (überirdische) Verkabelung der Städte mit Telephonleitungen. Vorher war schon die Photographie entwickelt worden, nebenbei die Bildtelegraphie erfunden worden (Faxtechnik). Der Edisonsche Phonograph zog in den achtziger Jahren in die Wohnungen und Büros ein. Im Budapester Telephonnetz gab es 1895 die erste „sprechende Zeitung“ mit 4000 Teilnehmern. Ebenfalls 1895 erfanden unabhängig voneinander Alexander Popow und Guglielmo Marconi die drahtlose Telegraphie. 1901 wurde der Atlantik zum ersten Mal drahtlos überbrückt, 1907 ein regulärer öffentlicher transatlantischer Funkverkehr aufgenommen.

Dracula

Die Evolution der Medien in den letzten zweihundert Jahren ist von der Entwicklung der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und deren Diskussion nicht zu trennen. Mit dem Erkenntniszuwachs und den verbesserten Kommunikationsmöglichkeiten wuchs gleichzeitig die Skepsis über die seit der Aufklärung behauptete Autonomie des Subjekts. Es ist nicht nötig, zum Beleg hier philosophische Denker wie Nietzsche heranzuziehen, der – selbst schon 1882 im Besitz einer Schreibmaschine, den bemerkenswerten Satz prägte: „Das Schreibzeug arbeitet an unseren Gedanken mit.“ Das von Bram Stoker geschaffene literarische Beispiel Dracula (1897) macht die Vorgänge sehr plastisch.[11]

Ein heroisches Subjekt wie Graf Dracula, der infolge einer vor 400 Jahren geschehenen Kränkung schon eine endlose Reihe von Untoten erzeugt hat und nun London verseuchen will, kann unter den dort um 1890 herrschenden medialen Bedingungen sein Werk nicht fortsetzen. Seine Gegenspieler sind: Ein Psychiater, der durch die Hypnose des letzten von Dracula erkorenen Opfers entscheidende Aufschlüsse über dessen Aufenthaltsort erfährt (Stoker kannte unter anderem Freuds Aufsatz Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene, 1893). Weiterhin ein Arzt, der sich dem Kokain und der Verzweiflung über den Verlust einer geliebten Person nicht so weit hingibt, daß er es versäumt, seinem Phonographen penible Protokolle über seine klinischen Beobachtungen anzuvertrauen. Schließlich eine angehende Journalistin, die diese Protokolle und anderes Material in einer Anzahl von Kopien auf der Schreibmaschine abtippt (Dracula vernichtet ein Exemplar und bemerkt dann, daß er gegen die Vervielfältigung machtlos ist). Eine Unzahl brieflicher, telephonischer und telegraphischer Verständigungen legen über die Existenz des transsilvanischen Grafen in London ein so dichtes Netz, daß ihm nur noch die Flucht zurück in die Heimat bleibt. Seine Verfolger holen ihn durch die Benutzung der Eisenbahn aber noch rechtzeitig zum Showdown in seinem Schloßhof ein. So schildert Bram Stoker in seinem Roman, der formal ein aus Medienprotokollen bestehendes Dossier bildet, die Medienlandschaft vor gut einhundert Jahren.

Medien im 20. Jahrhundert

Wenige Jahre nach der erfolgreichen Vertreibung Draculas aus der Medienmetropole London vollzog Sigmund Freud bei der Analyse des „psychischen Apparats“ die Atomspaltung des Subjekts und wies dem Ich eine nur noch bescheidene Rolle an der Oberfläche des psychischen Geschehens zu, das wesentliche Steuerungsvorgänge dem Unbewußten überlassen muß. Die Psychoanalyse klärte damit Vorgänge auf, die durch den Okkultismus einer weiten Spekulation zugeführt worden waren. Die Gedankenübertragung, die Eduard von Hartmann 1885 bemerkenswerterweise als „Telegraphie ohne Draht“ bezeichnete, das Hören von Stimmen entfernter Sprecher, das Bildersehen, die Existenz multipler Persönlichkeiten und Spekulationen über die vierte Dimension – all diese Vorstellungen und Vorgänge nehmen spätere Entwicklungen der technischen Medien oder Erkenntnise der Physik vorweg und begleiten ihre Durchsetzung.

Die im 20. Jahrhundert entstehenden technischen Medien, vor allem Radio, Fernsehen und Computer, stehen wie die früherem in einem direkten Zusammenhang mit dem Krieg. Artillerie und Funk, Blitzkrieg und UKW, U-Boot-Krieg und Computer: diese Verbindungen sind bekannt und oftmals beschrieben worden. Sie reichen tief bis in die Entwicklung einzelner Errungenschaften der Unterhaltungselektronik hinein, wie Hi-Fi und Stereo.

Beispiel Hi-Fi

„High fidelity“ hieß zunächst „ffrr“, eine Abkürzung von „full frequency range recording“. Die Schallplattenfirma Decca in London erfreute in den fünfziger Jahren ihre Hörer mit den dynamischen und rauscharmen Aufnahmen unter diesem Etikett. ffrr entstand im Zweiten Weltkrieg aus dem Bedürfnis der britischen Kriegsmarine, deutsche und britische U-Boote aus größerer Entfernung an ihren Maschinengeräuschen unterscheiden zu können. Das beschränkte Frequenzspektrum der bis dahin üblichen Schallaufzeichnungstechniken machte das unmöglich. 1940 beauftragte die britische Admiralität also Decca mit der Entwicklung einer besseren Aufnahmetechnik, die nach Kriegsende auch in der Unterhaltungsproduktion eingesetzt wurde.

Auf dem Weg zum Computer als Medium

Freud fragte sich 1895 in seinem Entwurf einer Psychologie, in dem er – unmittelbar vor der Entdeckung des Unbewußten – die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse über das Funktionieren unseres „psychischen Apparats“ zusammenfaßte, ob ein Apparat möglich sei, der gleichzeitig „Leitung“ und „Aufspeicherung“ erlaube und damit die Funktionen von „Wahrnehmung“ und „Gedächtnis“. „Einen Apparat, der diese komplizierte Leistung vermöchte, können wir vorderhand nicht ausdenken“.[12] Die bis dahin entwickelten Informations- und Kommunikationstechniken hielten die in den primären oralen Kulturen noch als Einheit verbundenen Vorgänge notgedrungen getrennt. Brief und Bote, Nachricht und Telephon – in dieser Trennung offenbarte sich die dunkle Seite des Vernunftfortschritts: zum Wesen der Nachrichten gehörte, daß sie ihre Empfänger nicht erreichten, und die einzelnen blieben mit ihrem Streben und Sterben allein.

Der Computer in seiner heute erreichten entwickelten Form ist gleichzeitig Speicher- und Übertragungsmedium. Erste Konzepte einer programmgesteuerten und mit einem Speicher ausgerüsteten Rechenmaschine entwarf Charles Babbage Mitte des 19. Jahrhunderts. Ziel war es, der britischen Admiralität bei der Erstellung von nautischen, astronomischen und ballistischen Tafeln zu helfen. In den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts arbeiteten verschiedene Wissenschaftler und Ingenieure an Konzepten für Elektronenrechner, unter anderen Konrad Zuse in Deutschland, Howard Aiken, George Stibitz in Amerika. Die größte Nachwirkung erzielten allerdings aus bestimmten Gründen andere Entwicklungen.

Alan Turing ersann 1937 das Modell der Turing-Maschine, eines Universal-Rechners, der die in programmierbare Logik umsetzbaren Aufgaben aller anderen Maschinen ersetzen konnte. John von Neumann übersetzte dieses Modell 1944 in die Architektur des Computers, der seine Programme und Daten in einen Arbeitsspeicher lädt und dessen Programmbefehle sequentiell abgearbeitet werden. Turing war im Zweiten Weltkrieg am britischen Colossus-Computer mit der Entschlüsselung der mit dem Enigma-Apparat verschlüsselten deutschen Wehrmachts-Funksprüche beschäftigt. Die erste Colossus war 1943 betriebsbereit, ein gewaltiger Apparat mit 1500 Elektronenröhren. Die Entschlüsselungsarbeit war so erfolgreich, daß die britische Armee gelegentlich absichtlich die Bombardierung von Städten durch die deutsche Luftwaffe hinnahm, ohne das Feuer zu erwidern, um Überraschung vorzutäuschen. Von Neumann entwickelte während des Krieges mit John Eckart und John Mauchly das Konzept des ENIAC, mit dem Schockwellen-Berechnungen für die Zündung von Wasserstoffbomben ausgeführt wurden.

Colossus und ENIAC waren keineswegs als Universalmaschinen konzipiert, ganz im Gegenteil. Durch eine Reihe von Basteleien und Umwidmungen ergab sich aus ihnen aber schrittweise das Konzept des universell einsetzbaren Rechners, der heute z. B. als PC millionenfach auf der ganzen Welt verbreitet ist.

Das Internet

Das Internet ist ein Produkt des Kalten Krieges, also der atomaren Drohung und Gegendrohung. 1967 startete das ARPANET, eine zunächst experimentelle Zusammenschaltung von Computern mehrerer Universitätsinstitute.[13] Es sollten Lösungen gefunden werden, mit denen im Falle eines atomaren Schlages gegen die USA, bei dem eins oder mehrere Kontrollzentren durch direkte atomare Einwirkung oder durch den elektromagnetischen Puls (EMP) ausgeschaltet würden, eine strategische Gegenoffensive gewährleistet werden könnte. Gebraucht wurde ein Netz, das nicht sternförmig angelegt war (ein Zentrum und Peripherie), sondern rhizomartig mit Knoten ausgestattet war, an denen alle Informationen zusammenliefen. Die Ausschaltung beliebiger Teile des Netzes würde so die anderen Teile immer noch funktionsfähig belassen. Das Militär stellte also eine Aufgabe, die nur mit einem antimilitärischen, nicht-hierarchischen Konzept beantwortet werden konnte, und es stellte es Informatikern und Programmierern, die von flower power und alternativen community-Konzepten nicht völlig unberührt waren. Das Netz wurde konzipiert und funktionierte. Das Militär realisierte seine Pläne aus Geldmangel dann nicht weiter und übergab seine Anteile an die Universitäten. Damit waren den Computernutzern an den Unis ein die USA überspannendes nicht-kommerzielles Computernetz in den Schoß gelegt worden, das seitdem mehrere Metamorphosen durchgemacht hat. Inzwischen umspannt das Netz die ganze Welt und bezieht auch kommerziell betriebene Transportwege und Schaltstellen ein. Das Rückgrat, die wesentlichen Leistungsträger des amerikanischen Internet, bilden seit 1995 kommerzielle Rechner. Dennoch hat das Netz seine nicht-hierarchische, rhizomartige Struktur behalten, es bildet ein kaum mehr durchschaubares Wurzelwerk zigtausender Initiativen und Schaltstellen sowie 30-40 Millionen Benutzer, deren Verbindung untereinander auf eine in keinem Fall vorhersagbare Weise zustandekommt.

Medienhistorisch bringt das Computernetz die Auflösung der Schranken von Zeit und Raum einen entscheidenden Schritt voran. Es gibt keinen Vorgang auf der Welt mehr (sofern er an irgendeiner Stelle als Input das Netz erreicht), der nicht an jeder anderen Stelle in Echtzeit abgerufen werden kann. Alles, was jemals in diesem Netz abgelegt wurde, ist nicht mehr zurückrufbar und hat an einer oder mehreren Stellen einen quasi ewigen Bestand. Eine beängstigende Perspektive: das Rauschen nicht mehr verarbeitbarer Informationen nimmt rapide zu.

Das eigentliche Angebot des Internet, in Gestalt des World Wide Web (nicht zufällig eine Entwicklung des Spitzentechnologie-Forschungsinstituts CERN) liegt allerdings – derzeit noch – in der Ermöglichung von Spezialisierung. Das WWW stellt eine Reihe brauchbarer und präziser Such- und Auswahlwerkzeuge zur Verfügung, die das Auffinden von Details, das „Hineinbohren“ in eine spezielle Sache und das immer wieder neue Wenden von Fragen ermöglichen. Wer also noch ein Thema hat und nicht das Surfen zum Selbstzweck erhebt, kann sich stunden- und tagelang mit Material versorgen lassen, Diskussionen anzetteln und begleiten oder in vielfältiger Form Marktbeziehungen aufnehmen. Insofern ist McLuhans „globales Dorf“ Realität geworden.

Verschwinden die Subjekte im Speicher?

Wir haben bei der Betrachtung der früheren Umwälzungen auf dem Gebiet der Informationstechnologien jeweils zwei Haltungen zu den neuen Entwicklungen feststellen können: die eine kennzeichnet das neue Medium als göttliches Geschenk (die Schrift, den Buchdruck), als Freisetzung menschlicher Möglichkeiten, als Machtzuwachs des Subjekts, die andere beklagt den Verlust humaner Eigenschaften und eine zunehmende Abhängkeit und Fremdsteuerung des Subjekts.

Der Entstehungszusammenhang der neuen Medien aus dem Krieg, aus Strategien der Menschenvernichtung, ist schon betont worden. Hier kommt nur an die Oberfläche, was im Innern der technischen Medien verborgen ist: die Informationsmaschinen funktionieren unabhängig von jeder Subjektivität und erzeugen und reproduzieren eine Art Realität, die für uns das Reelle ist, als ihre abhängige Variable. Diese nennen wir Kultur. Außerhalb dieser Medien ist Kultur nicht denkbar oder machbar, Denken und Machen fließen im jeweiligen Stand der Technik zusammen.

Einigermaßen verwunderlich ist die Begeisterung, mit der sich Künstler und Philosophen seit einigen Jahren die Konzepte der Computertechnologie zu eigen machen: Vernetzung und Interaktivität sind die Zauberworte, mit denen hoffnungsvolle Prospekte einer „partizipatorischen“ und „bidirektionalen“ künstlerischen Kommunikation beschworen werden. Die ästhetische Avantgarde der neuen Medienkunst betet die Interfaces an wie die 700 Intellektuellen in Brechts Gedicht von 1929 die Öltanks.

Wenn die medientheoretischen Analysen von Lacan bis Kittler zutreffen, die zu dem Schluß kommen, daß die technologischen die Wahlakte eines Subjekts modulieren – bleibt uns da noch etwas anderes übrig, als uns mit der technischen Apokalypse – der Auslöschung der Subjekte durch digitale Schaltwerke – fröhlich zu identifizieren?

Die heutige kritische Diskussion der technischen Medien gründet häufig auf einer naiven und unfruchtbaren Gegenüberstellung von Mensch und Werkzeug. So wenig, wie das Freudsche Unbewußte ein Werkzeug des Ichs ist, so wenig können wir die Medien als verlängerte Organe der Menschen betrachten (wie McLuhan). Die externen Speicher haben seit jeher ein Eigenleben, die digitale Kommunikation benötigt keine Menschen an dem einen oder anderen Ende. Das von manchen Medien-„Avantgardisten“ gezeichnete Bild einer Mensch-Maschine-Kommunikation ist ein Euphemismus, handelt es sich doch eher um eine Maschine-Maschine-Kommunikation mit optionaler Schnittstelle für Menschen.

Die Klage über den Einfluß der Medien auf das Alltagsleben der Menschen, wie wir sie in den letzten zwanzig Jahren am Beispiel des Fernsehens und des Computers erlebt haben (Beispiele sind die besonders bei Erziehern beliebten Autoren Postman und Weizenbaum), ist nicht neu. Auch die Behauptung, es sei eine bislang unbekannte neue Qualität dieses Einflusses erreicht, kennen wir schon; auch davon sind die Geschichtsbücher voll.

Das Aufkommen der „Schwarzen Kunst“, des Drucks mit den beweglichen und mit einem Schnellgießinstrument einfach herstellbaren Lettern, wurde von den Zeitgenossen mit Recht als Revolution empfunden und war von den entsprechenden kontroversen Reaktionen begleitet. Die seit 1800 entwickelten und eingesetzten technischen Medien (Telegraphie, Photographie, Telephon, Fernschreiber, Phonograph, Kinematograph – um im 19. Jahrhundert zu bleiben) revolutionierten den Alltag erneut und setzten einen Prozeß der Vernichtung von Raum und Zeit ingang, der seit kurzem durch das Satellitenfernsehen und weltweite Computernetze abgeschlossen worden ist.

Die Auslagerung des menschlichen Gedächtnisses in externe Speicher, die mit der Keilschrift vor mehr als 5000 Jahren begann, hatte immer schon eine identitätsstiftende Seite. Kaum 100 Jahre nach Gutenbergs Anstoß war das gesamte scriptographisch gespeicherte Wissen der Welt in typographischer Form vorhanden und vervielfacht. Die damit einhergehenden Umwälzungen des Weltbildes und des Selbstverständnisses der Menschen erzeugten eine neue Identität, den sich über seine Vernunft definierenden Renaissancemenschen. Dabei wird auch die andere Seite dieses Prozesses ebenso offenkundig: Der unabhängig von der Existenz und der Lebenszeit von Individuen vorhandene externe Speicher schmälert die vordem herausragende Rolle von Individuen für die Vermittlung und Anwendung von Wissen. Gottkönige, Priester und Schamanen büßten zwangsläufig an Bedeutung ein. Abgesehen davon findet bei jedem Medienwandel die Bevorzugung bestimmter Sinnesleistungen zu ungunsten anderer statt. Die Verbreitung des gedruckten Buchs drängt die Bedeutung taktiler und auditiver Informationen zurück: die Technologie formt die sozialen und kommunikativen Strukturen und damit auch die sinnlichen Wahrnehmungsfähigkeiten der Menschen.

Betrachten wir kurz das Schicksal dessen, was wir „Vernunft“ nennen. Der Vernunftbegriff entstand unter dem Einfluß des Medienapriori des Buchdrucks und der Literatur. Die Krise der „Vernunft“ beginnt nach neuen medienhistorischen Umwälzungen, die mit dem Einsatz der Telegraphie beginnen und einen Prozeß der immanenten Krise in der vernünftigsten aller Wissenschaften, der Mathematik auslösen. Am Ende dieser Krise steht der Aufsatz von Alan Turing On Computable Numbers, 1937. Alan Turing hat die beiden wesentlichen Konzepte der digitalen Medien formuliert: Erstens die Universal-Maschine. „Danach kann jedes Phänomen und jeder Prozeß, der vollständig und unzweideutig beschrieben werden kann (was die Definition sowohl des Algorithmus/Automaten, wie die des intersubjektiv überprüfbaren Wissens der Wissenschaften ist), in der einen einzigen Maschine implementiert werden, die allen Maschinen ein Ende setzt.“ Zweitens in seinem späteren Aufsatz Computing Machinery and Intelligence, 1950 den Turing-Test: „Kann eine Maschine Äußerungen hervorbringen, die, stammten sie von einem Menschen, als Zeichen von Intelligenz angesehen werden?“ Diesen Test bestanden im Rahmen der maschinenverständlichen Formulierungsmöglichkeiten intelligenter Fragen seither die Maschinen problemlos. Turing stellte dadurch den Menschen als Symbolverarbeitungssystem auf die gleiche Stufe mit der Maschine und löste – so kann man das vielleicht sagen – das Subjektproblem technisch auf.

Das Aufbrechen des Vernunftbegriffs, der von der Vorstellung der Einheit des Subjekts getragen ist, geht durch Freud weiter, der diese Einheit atomisiert und die unbewußten Steuerungen freilegt.

Hinzu kommt noch ein Drittes: eben eine Art von Auflösung der körperlichen Wahrnehmungs- und Mitteilungsformen (Sehen, Hören, Sprechen ...) durch die technischen Medien. Die Simulation nach allen Maßgaben der Wahrscheinlichkeit tritt an die Stelle einer Kommunikation, die zumindest den Schein größerer Unmittelbarkeit hatte und erzeugte. Die modernen Kriege, die Psychosen, die sogenannten „Massenmedien“ (Kreaturen der Demoskopie und der Statistik) zeugen von dieser Ersetzung des menschlichen Körpers.

Das menschliche Hirn, dessen Operationen wir nur auf die allergröbste Weise beeinflussen können und im wesentlichen bislang nicht begreifen, nimmt derzeit einen Umbau vor, der dem der Achsenzeit (400-500 v. Chr.) im hellenischen Einflußbereich entspricht. Damals fand unter dem Einfluß der Alphabetisierung eine Verschiebung zwischen der linken und der rechten Gehirnhälfte statt (frappierend deutlich ablesbar am Richtungswechsel der Profile auf Münzen). Heute findet eine Umstrukturierung der Inhalte von Stammhirn und Großhirn statt: Das Neue, Unerwartete fand früher am Rande des Sehfeldes statt und wurde im Stammhirn im Hinblick auf Orientierungsreaktionen ausgewertet. Im Zentrum des Sehfeldes ruhte das Vertraute, das direkt im Großhirn Aufnahme fand. Das Fernsehen stürzt diese Anordnung um: Der Bildschirm steht in vertrauter Nähe und sendet seine bewegungsreichen Neuigkeiten direkt ins Großhirn. Das Hirn verarbeitet dann Bilder und Texte gleichzeitig, was wiederum ein neuer Verarbeitungsmodus ist. Unsere Medien bauen unser Gehirn um.

Wir sind – unter anderem durch die Psychoanalyse – mit dem Gedanken konfrontiert, daß das vernünftige Bewußtsein nur eine imaginäre Innenansicht medialer Standards ist. „Was ein Mensch heißt, bestimmen keine Attribute, die Philosophen den Leuten zur Selbstverständigung bei- oder nahelegen, sondern technische Standards. Jede Psychologie oder Anthropologie buchstabiert vermutlich nur nach, welche Funktionen der allgemeinen Datenverarbeitung jeweils von Maschinen geschaltet, im Reellen also implementiert sind.“[14]

Unsere Medien scheinen uns immer wieder und auf einer immer wieder neuen und höheren Qualitätsstufe zu der Einsicht zu verhelfen, daß wir ohnmächtiger sind, als wir es noch gerade eben angenommen haben.

Mythos Interaktivität

In Debatten über die Möglichkeiten von Kunst im Zeitalter der elektronischen Medien gibt es oft eine merkwürdige schiefe Sicht des Verhältnisses von Kunst und Technik. Oft wird der Schein geweckt, daß die moderne Technik an die Stelle der Kunst trete. Dazu ist anzumerken, daß auch jede frühere Kunst auf Technik basierte. Kunst hat – sinnlich wahrnehmbar – eine markant materielle Seite und ist nicht auf einen geistigen Vorgang reduzierbar. Interessant ist also: An die Stelle welcher Techniken rückt jetzt die Datenverarbeitung?

Aufzeichnung, Speicherung und Übermittlung von Daten sind die wesentlichen Prozesse, die von technischen Medien bewältigt werden. Jeder dieser Vorgänge hat seine Vorgeschichte in anderen Medien. Aber erst die durch konfliktreiche Entwicklungen in den Naturwissenschaften vorweggenommene tatsächliche technische Aufhebung und Ablösung (Digitalisierung) der menschlichen Sinnesleistungen annihiliert auch die bislang sorgsam gehüteten Grenzen zwischen den Gattungen der menschlichen Verstandestätigkeit und der künstlerischen Kreativität.

Die Folgen davon sind: Die Aufzeichnungen der technischen Medien können von Menschen nicht mehr unmittelbar gelesen werden. Ein Programmierer, der das von ihm geschriebene Programm so vorgelegt bekäme, wie die Maschine es liest, würde es nicht mehr erkennen. Technische Medien kommunizieren ihre Informationen nicht direkt mit uns, sondern nur über ein „Interface“. Eine Mensch-Maschine-Kommunikation gelingt dann, wenn ein Mensch eine bereits existierende technische Realisation adäquat nachvollzieht. Computer beenden konsequent unsere Vorstellungen über die Natur von Einfällen, Erfindungen oder „Geistesblitzen“. Sie erweisen sich als leistungsfähige Produzenten von „Einfällen“, indem sie Vorhandenes kombinieren und schnelle Verknüpfungen herstellen. Sie modulieren dabei auch die Haltungen ihrer Benutzer: Die stille Freude an der kontemplativen Betrachtung wendet sich in den puren Spaß am Mit-Machen.

Sehen wir uns an dieser Stelle einmal das Kommunikationssystem an, das Claude E. Shannon 1949 entworfen hat und seitdem als Grundlage für die Medientheorie angesehen werden kann.

Shannon

The fundamental problem of communication is that of reproducing at one point either exactly or approximately a message selected at another point. Frequently the messages have meaning; that is they refer to or are correlated according to some system with certain physical or conceptual entities. These semantic aspects of communication are irrelevant to the engineering problem. The significant aspect is that the actual message is one selected from a set of possible messages. The system must be designed to operate for each possible selection, not just the one which will actually be chosen since this is unknown at the time of design.[15]
Computer bieten einen Handlungsraum, an dem die Beteiligung von Menschen möglich (jedoch nicht notwendig) ist. Mit Begriffen wie Kreativität, Aktivität und Dialogfähigkeit pflegten Künstler vermutlich voller Selbstillusionen ihren Handlungsraum abzustecken. Für den Handlungsraum des Computers gelten statt dessen die Leistungsmerkmale Kombinatorik, Reaktivität und Interaktivität. So sehr sich die Begriffe auch ähneln, ihre semantische Verwandtschaft darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich auf der einen Seite um körperliche Aktivitäten von Menschen, auf der anderen Seite um die „Aktivität“ digitaler Prozesse handelt. Die Akzeptanz, die das Konzept der Interaktivität derzeit vor allem bei Künstlern und Medienaktivisten erfährt, muß daher stark verwundern.

Fazit

Die Entwicklung der Medien können wir genauso wenig umkehren wie den Prozeß unserer Selbsterkenntnis. Die Medien sind auch nicht die Mittel, die uns auf geheimnisvolle Weise unserer wahren Natur entfremden, wie das Computerkritiker (Weizenbaum), aber auch Cyberspace-Gurus (Rheingold) seltsamerweise annehmen – die daraufhin über Möglichkeiten spekulieren, diesen Entfremdungsprozeß wieder „umzukehren“. Die Evolution ist ein unteilbarer Vorgang, in dem unsere Selbsterkenntnis, unsere Medien und die Formen unserer Kommunikation miteinander verknüpft sind. Die Steuerungsmechanismen dieser Evolution sind uns in ihren physikalischen, physiologischen, genetischen und kybernetischen Ausprägungen allerdings immer noch weitgehend unbekannt.

Der Text basiert auf einem Vortrag, der am 26. März 1996 im Kulturzentrum Schlachthof in Bremen gehalten wurde.