Heute, am 24.12.2017, wird Jonas Mekas 95 Jahre alt. Angesichts des ersten Drittels seines Lebens ist das ein sehr unwahrscheinliches Alter. Seine Tagebücher aus den Jahren 1944 bis 1955 enthalten Momentaufnahmen in einer schier endlosen Kette extremer und bedrückender Situationen. Das Unwahrscheinlichste ist die Sachlichkeit, mit der Erlebtes und Gehörtes aufgezeichnet wird, gelegentlich unterbrochen durch Kürzesterzählungen und ergänzt durch Photos aus dem Archiv des Autors.
Jonas Mekas stammt aus Litauen, aus einer Bauernfamilie. Neben seiner Tätigkeit auf dem väterlichen Hof ist er ein besessener Leser und beginnt bereits als Jugendlicher zu schreiben und zu publizieren, auch noch unter den Bedingungen der litauischen Sowjetrepublik (durch den Hitler-Stalin-Pakt 1940) und der deutschen Besatzung 1941 bis 1944. Mit einem jüngeren Bruder bricht Mekas 1944 auf, um in Wien ein Studium zu beginnen. 1944! Auf ihrer Bahnreise nach Westen werden sie aufgegriffen und nach Elmshorn gebracht, wo sie bis zum Kriegsende in ein Zwangsarbeitslager gesteckt werden und in der Maschinenfabrik Neunert arbeiten müssen.
Nach Kriegsende folgen viereinhalb Jahre Lagerleben als Displaced Person (DP). Wie viele tausend andere Litauer, die sich 1945 zufällig und meist erzwungen in den Besatzungszonen der Alliierten aufhalten, wollen auch die Brüder Mekas nicht zurück in ihre nun wieder sowjetisch regierte Heimat. Es gab anfänglich etwa 6,5 Millionen DPs, sie wurden zum Teil repatriiert, zum Teil in anderen Ländern neuangesiedelt. Die Brüder Mekas erhalten Ende 1949 eine Aufenthaltsgenehmigung in den USA, als Bäcker in Chicago, aber treten ihre Arbeit dort nie an, sondern bleiben in New York. Jonas Mekas liest und schreibt ununterbrochen weiter und erwirbt sich eine umfassende Kenntnis der westlichen Moderne und ihrer Avantgarden. Er photographiert schon in Deutschland gern, in New York beginnt er zu filmen. Er wird zu einem der wichtigsten Avantgarde-Filmemacher, gründet 1954 ein Filmmagazin und schreibt ab 1958 eine legendäre Filmkolumne in der Zeitschrift Village Voice.
Sein Tagebuch spricht von den Existenzbedingungen der DPs oft aus einer sachlichen Distanz, mit manchmal magisch-realistischen Noten.
Wir haben gelernt, wie Schlangen zu essen. Wenn es etwas zu essen gibt, essen wir genug, um eine Woche auskommen zu können. Wenn es nichts gibt, essen wir nicht. Wenn wir unsere Essensration bekommen, essen wir mittlerweise alles, genau dort, auf der Stelle, wir heben nichts für morgen auf. Wie die Vögel. Und dann lesen wir unsere Bücher.
Selbstmitleid und outrierte Verzweiflung sind Jonas Mekas fremd. Es ist nicht möglich, nach seinen Aufzeichnungen beispielsweise die Kriegstagebücher des Wehrmachtssoldaten Heinrich Böll noch einmal anzufassen. Der „ewige DP“, als der Mekas sich 1949 bezeichnet, erlebt in New York eine der Karrieren, die John Dos Passos mehrfach gezeichnet hat. Anziehung und Abstoßung wechseln sich ab. Harte Hilfsarbeiter-Jobs, Hunger und Geldnot begleiten in den ersten Jahren seine Versuche, in der neuen Heimat Fuß zu fassen. Mit 29 wird er Bote eines Photolabors, später dann dort Photograph, dann beginnt seine filmkünstlerische Karriere in den Nischen der Avantgarde, dann als Gründer einer Kinemathek, als Mentor von Andy Warhol, als Freund von John Lennon und Yoko Ono. Ankommen wird er nie. Die Distanz ist bis heute bei ihm geblieben.
Das neueste Buch von Jonas Mekas ist vor einigen Monaten erschienen. Es heißt A Dance with Fred Astaire und ist eine Collage aus Tagebuchnotizen, Photos, Anekdoten und Fundstücken aus vielen Quellen. Eine aktuelle Fortsetzung der frühen Tagebücher, und mindestens so empfehlenswert die diese.
EINE ERZÄHLUNG [1951]
Er reiste weit, um genau dort anzukommen, wo er aufgebrochen war. Er war weit gereist, 10000 Meilen. Er wollte immer wissen, wo die Straße wirklich hinführt. Aber als er das Ende der Straße erreichte, sah er nichts als einen frischen Haufen Hasenscheiße. Da begriff er die Albernheit seines Verlangens, zu wissen, was am Ende der Straße ist, all sein Leben da hineinzulegen, und er dachte über seine lange Reise nach, den Aufwand, den er betrieben hatte, und er lachte. Er lachte ohne Reue und Bitterkeit. Er wusste, jemand, der sich gern über andere lustig macht, hätte sich über ihn lustig gemacht. Für einen Moment kommunizierte er mit dem Absoluten, wenn auch nur für einen flüchtigen Augenblick. Und dann begann er seine lange Reise zurück. [S. 411]