„Dienende“ Freiheit

12.04.2020 | Rezension

Zu: Davis, Christopher Michael. 2019. Die „dienende“ Rundfunkfreiheit im Zeitalter der sozialen Vernetzung. Zum Erfordernis einer Neuordnung der Rundfunkverfassung am Beispiel der Sozialen Medien. Tübingen: Mohr Siebeck.

Historizität des Rundfunkrechts

Im Unterschied zu den meisten rundfunkrechtlichen Abhandlungen behandelt Davis’ Dissertation die verfassungsgerichtlichen Auslegungen in den Rundfunkurteilen seit 1961 nicht als ein für allemal gegeben, sondern als regulatorische Momentaufnahmen, die aus ihrem jeweils aktuellen Kontext erklärbar sind und erklärt werden müssen.

Die Rundfunkkonzeption des BVerfG durchlief eine Entwicklungsreihe von verfassungsgerichtlichen Interpretationen des Art. 5 Abs. 2 GG, ist jedoch unvollständig im Hinblick auf die Funktion der Rundfunkfreiheit. Diese soll der Meinungsfreiheit dienen, der Gesetzgeber soll sie dementsprechend „ausgestalten“. Subjektive Rechtspositionen gibt es in diesem Konzept nur nach Maßgabe des Gesetzgebers.

Bereits nach der Zulassung privater Rundfunkveranstalter und der Einführung des Videotextes, spätestens aber seit dem Aufkommen des Internets haben Kommentatoren die Rundfunkrechtsdogmatik des BVerfG als revisionsbedürftig angesehen. (Schoch 1998: 193, Cornils 2019: 96f.).

Davis fragt, ob das GG ein anderes Rundfunkkonzept zulässt und beantwortet das positiv. Die in seinem Buch entwickelte Alternative ist die ‚Rundfunkveranstalterfreiheit‘, die im Prinzip von allen Bürgern wahrgenommen werden kann. Sie tritt an die Stelle der ‚dienenden Freiheit‘ und zieht ein anderes und einfacheres Regulierungsregime nach sich.

Kritik am bisherigen Konzept des BVerfG

Art 5 
(1) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.

Das Internet hat es mit sich gebracht, dass der Rundfunk im verfassungsrechtlichen Sinn egalitär geworden ist, wie Davis mehrfach bemerkt (5, 77). Daher lässt sich die derzeitige Ordnung als Grundrechtsverweigerung für die Bürger interpretieren. Grundrechtsträger sind ausschließlich speziell selektierte und legitimierte Organisationen, nicht – wie im Falle aller anderen Grundrechte – die Individuen. Diese Regelung – und speziell die unterschiedliche Einordnung von Presse, Rundfunk und Film – wird von Davis in Zweifel gezogen. Weder grammatikalisch, noch historisch-teleologisch oder systematisch bietet der Grundgesetz-Artikel eine nachvollziehbare Grundlage für die objektive Deutung der Rundfunkfreiheit. Die Ausgestaltung durch den Gesetzgeber ist nicht vorgesehen bzw. verlangt – was jedoch beispielsweise im Art. 14 bei der Gewährleistung von Eigentum und Erbrecht ausdrücklich geschieht. Zudem – dass gerade auf dem Hintergrund der Erfahrung mit der Indienstnahme des Rundfunks im NS-Staat nun der Staat die Staatsfreiheit des Rundfunks gewährleisten soll, „mutet seltsam an“ (110).

Davis berührt immer wieder die zentrale Funktion des Rundfunks, die Sicherung der freien Meinungsbildung. Diese ist der freien Meinungsäußerung vorgelagert. Beide sind für das Funktionieren der Demokratie unerlässlich. (20 – siehe jedoch Vesting 2001). Die Anrufung dieser Grundfunktion in der Rundfunk-Rechtsprechung führt allerdings zu einer Verschiebung von der individuellen Freiheit zu einer Funktionalisierung des Rundfunks für den Staat: „Der Staat gewährleistet dem Einzelnen … (lediglich) ein ‚politisches Auftragsrecht‘ zur Mitgestaltung seiner selbst, das – entsubjektiviert – nur nach den Vorgaben des Gesetzgebers ausgeübt werden kann.“ (24) Aus dieser Beschreibung leitet Davis dann allerdings keine inhaltliche Kritik (Staatsfixierung) ab, sondern beklagt nur die Gewichtung von verfassungsrichterlichen Vorgaben gegenüber einfachgesetzlichen Regelungsmöglichkeiten. 

Ausgestaltung

Die Elemente des Funktionsauftrags werden von Davis knapp abgehandelt:

Der Funktionsauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ist es, die für die Meinungsbildung wichtige und nötige Vielfalt, sei es ergänzend oder allein, in der entsprechenden Tiefe zu gewährleisten. Dies war bereits der Zweck der Grundversorgung.

Der Bevölkerung müssen Informationen und ein Forum durch den öffentlich-rechtlichen Rundfunk zur Verfügung gestellt werden. Gleichzeitig muss die Orientierung in einer immer größer werdenden Informationsflut ermöglicht werden. Auch kulturelle Förderung, da Bestandteil | des klassischen Auftrags, soll der öffentlich-rechtliche Rundfunk betreiben. Weiter liegt es nahe, aus der Bestands- und Entwicklungsgarantie eine Innovationsfunktion abzuleiten.

Diese ist bei Holznagel 1999 und anderen angedeutet. Anders als Degenhart meint, geht es dabei nicht darum, neue Techniken zu erfinden, sondern bereits erfundene neue Techniken zu nutzen. (35)

Der Staat muss die Freiheit des Rundfunks vor sich selbst (Staatsfreiheit) und vor Beeinträchtigungen aus der Gesellschaft (Vielfalt) schützen, und zwar aufgrund der besonderen Wirkmächtigkeit des Rundfunks auch nach Wegfall der technischen Sondersituation (Frequenzknappheit). „Der Gesetzgeber mag zwar keine unbeschränkte Dispositionsbefugnis über die so erzeugten subjektiven Rechtspositionen haben, hat aber nach wie vor die starke Möglichkeit, im Rahmen der Ausgestaltung auf diese einzu-wirken.“ (38)

Rundfunkfreiheit und vernetzte Medien

Die durch das Internet und speziell die sog. Sozialen Medien entstandenen technischen Möglichkeiten für alle Bürger, sich im Netz und für die Allgemeinheit sichtbar zu äußern, sind bislang von der Grundrechtsdogmatik nicht speziell erfasst. Den Bürgern wird eine „originär grundrechtlich geschützte Rechtsposition verweigert“ (39), was zu der Überlegung veranlassen sollte, das Konzept der dienenden Rundfunkfreiheit aufzugeben.

Dabei lässt Davis allerdings die Option außer Acht, dass verfassungsrechtlich ein neues, in bestimmter Hinsicht ebenfalls schutzwürdiges Medium definiert werden könnte, das kein klassisches Massenmedium ist und in dem sich die individuelle Freiheit der Meinungsäußerung und Orientierung realisiert.

Kritik des Rundfunkbegriffs

Der Rundfunkbegriff wurde in den BVerfG-Entscheidungen nie vollständig definiert. Allerdings gibt es eine Reihe von Formulierungen in den Staatsverträgen. Nachdem die Übertragungstechnik aus der Definition herausgenommen wurde, ist Rundfunk letztlich die unverkörperte massenkommunikative Verbreitung von Inhalten an eine beliebige Öffentlichkeit. Davis betont ausdrücklich und zustimmend, dass damit auch Blogs (selbst wenn sie nur aus Text-Bild-Kombinationen bestehen) und „Seiten“ auf Social-Media-Plattformen zum Rundfunk gehören. (72)

Davis setzt sich ausführlich mit der Gefährlichkeit und gleichzeitig Schutzbedürftigkeit des Rundfunks, speziell des Fernsehens auseinander, die in BVerfG-Urteilen und in der Literatur häufig angeführt werden. Die Kombination von Breitenwirkung, Aktualität und Suggestivkraft als besonders wirksam weist er durch einen Rekurs auf die Standardliteratur der Medienwirkungsforschung (Burkart; Schenk) zurück. „Die angenommene Verknüpfung zwischen technischem Angebot, Nutzung und Wirkung war immer schon eine Fiktion.” (80) Eine Sonderdogmatik für Rundfunkmedien lässt sich durch eine besondere Wirkungsweise des Rundfunks nicht rechtfertigen.

Die Merkmale Linearität (in den Staatsvertrag übernommen aus der AVMD-RL, wo sie allerdings nicht definiert ist), Sendeplan (ein in der Anwendung auf Abrufprogramme bereits stark interpretationsbedürftiger Begriff) und journalistisch-redaktionell (unbestimmt im Hinblick auf nicht-professionelle Veröffentlichungen, z. B. Blogs) weist Davis als untauglich und verzichtbar für die Bestimmung von Rundfunk-Eigenschaften zurück.

Auch der Begriff der Telemedien wird unvollständig definiert und widersprüchlich angewendet. Er ist für Davis in letzter Konsequenz unnötig.

Begrenzter Horizont von Kritik und Konzept

Zwar stimmt Davis den Positionen in der Literatur zu, die den historischen Wandel von Technik, Mediennutzung und Recht fokussieren, zieht daraus jedoch nur Schlüsse, die im System der auch im Grundgesetz genannten Massenmedien verharren. Der Wandel der realen Mediensysteme vor allem im Hinblick auf die Relevanz der Massenmedien für die öffentliche und private Meinungsbildung lässt die Privilegierung dieser Medien in einem kritischen Licht erscheinen. Die bisherigen Versuche, Onlinemedien mit verfassungsrechtlichen Standards zu erfassen, haben mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet. Dabei geht es nicht nur um die Kollision der Schutzansprüche von Presse und Rundfunk, sondern auch um die tatsächliche Eigenart der Onlinemedien. Für Davis sind sie – sofern nicht Individual-Kommunikation – als „individualisierte Massenmedien“ Abrufdienste für audiovisuelle Produktionen. 

Dass ein großer Teil von Online-Produktionen und -Produkte von Davis dem Rundfunk zugeschlagen werden, überrascht angesichts der zunächst differenzierten Kritik an verengten Sichtweisen im Rundfunk- und Verfassungsrecht – beispielsweise in der Frage der technischen oder der inhaltlichen Kriterien für den Rundfunkbegriff. Er lässt zwar unterschiedliche Internet-Plattformen Revue passieren, betrachtet sie jedoch im wesentlichen als „Abruf“portale für präfabrizierte Inhalte, um die sich gelegentlich Kommentare als Feedback ranken. Damit befindet er sich in Übereinstimmung mit dem aktuellen Rundfunkrecht, auch dem derzeit (April 2020) noch nicht verabschiedeten Medienstaatsvertrag. Er beobachtet nicht, dass sich die Produkte der Medienanbieter gegenüber den in Presse und Rundfunk üblichen und möglichen Formaten verändert haben und weiterhin verändern. Er berücksichtigt auch nicht, dass dialogische Kommunikationsformen (zwischen Anbieter und Rezipienten, unter Rezipienten, zwischen Rezipienten und maschinellen Systemen) dabei sind, zur genuinen Grundlage aller Produktion zu werden. Insofern bleibt sein Konzept ganz den massenmedialen Traditionen verhaftet und löst keins der Probleme, die durch die Entwicklung und Nutzung der digitalen Kommunikationsformen entstanden sind. Diese sind selbst auf der Ebene der Individualkommunikation bzw. – nach Davis – „interpersonal-öffentlichen Kommunikation“ durchmischt mit Fragmenten der öffentlichen politischen und kulturellen Kommunikation. 

Das Unterfangen, Merkmale der Interaktivität von Nutzern (Rollentausch, Möglichkeit eigener Themensetzung, Reichweite) zur Unterscheidung von Individual- und Massenkommunikation zu nutzen, ist wenig produktiv. Davis setzt sich nicht mit der Komplexität der Kommunikationsformen auf den digitalen Plattformen auseinander, sondern legt ein abstraktes Schema an ausgewählte Erscheinungsformen an.

In der Auseinandersetzung mit den verfassungsrechtlichen Normen argumentiert Davis materialreich – beispielsweise unter Hinzuziehung der Protokolle des Parlamentarischen Rats 1948 zur Klärung des Zustandekommens von Art. 5 GG. Begriffsgeschichtliche Erörterungen und die Einordnung von verfassungsrechtlichen Positionen in größere kultur- und geistesgeschichtliche Zusammenhänge fehlen hingegen weitgehend. So gewinnt er zwar der vielfach erzählten Geschichte der rundfunkrechtlichen Dogmatik neue Seiten ab, aber setzt nicht die Erkenntnisse der Soziologie, Mediengeschichte, Wirkungsforschung usw. ein, um neue Perspektiven in die Auseinandersetzung um Rechtsnormen zu tragen. 

Literatur

Bayerischer Landtag. 16. Wahlperiode. Begründung zum Zwölften Staatsvertrag zur Änderung rundfunkrechtlicher Staatsverträge (Zwölfter Rundfunkänderungsstaatsvertrag) Drucksache 16/260. 21.01.2009, S. 11–25.

Cornils, Matthias: Die Perspektive der Wissenschaft: AVMD-Richtline, der 22. Rundfunkänderungsstaatsvertrag und der „Medienstaatsvertrag“ – Angemessene Instrumente für die Regulierungsherausforderungen? Vortrag auf dem Symposion „Medienrecht 4.0 eine zeitgemäße Modernisierung des Rundfunkrechts?“, ZUM 2019, S. 89–103 

Holznagel, Bernd: Der spezifische Funktionsauftrag des Zweiten Deutschen Fernsehens (ZDF). Bedeutung, Anforderungen und Unverzichtbarkeit unter Berücksichtigung der Digitalisierung, der europäischen Einigung und der Globalisierung der Informationsgesellschaft. In: ZDF Schriftenreihe 55 Mainz 1999.

Schoch, Friedrich: Öffentlich-rechtliche Rahmenbedingungen einer Informationsordnung. Berichte und Diskussionen auf der Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehre in Osnabrück vom 1. bis 4. Oktober 1997. In: Bethge, Herbert ; Weber-Dürler, Beatrice. Der Grundrechtseingriff / Schoch, Friedrich; Trute, Hans-Heinrich. Öffentlich-rechtliche Rahmenbedingungen einer Informationsordnung. Berlin; New York: de Gruyter, 1998, S. 158–215. (Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, H. 57).

Vesting, Thomas: Zur Entwicklung einer Informationsordnung, in: Badura, Peter/Dreier, Horst (Hrsg.): Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht. Zweiter Band: Klärung und Fortbildung des Verfassungsrechts, Tübingen: Beck, 2001, S. 219–240.