Rosalyn

Eine Art Rondo

Marikke Heinz-Hoek: Last Rondo (1998), Kunsthalle Bremen [Screenshot]

03.05.2022 | Text für das Archiv der Kunsthalle Bremen

A. Ein Raum wird durch eine Projektion auf eine Wandfläche in eine rosafarbene Dämmerung getaucht. Präsentiert wird ein Video, das eine einzige Einstellung zeigt. Zu sehen ist ein Stück Garten mit einem Baum und einer rosa leuchtenden Fläche. Eine weibliche Figur strebt in tänzerischen Drehbewegungen auf den Baum zu, den sie dann mit den Armen umfasst. Ihr Kopf bleibt während der ganzen Einstellung abgewandt, das Gesicht ist nicht zu erkennen. Die Bewegung wird untermalt – oder angetrieben? – von einem Musikstück, einer Vokalise mit einer weiblichen Stimme und sanfter Gitarrenbegleitung. 

B. Die Figur in Bewegung ist Marilyn Monroe, die platinblondierte Medienikone, über die alle Welt Bescheid zu wissen meint. Im 1960 gedrehten Film The Misfits spielt sie die Tänzerin Roslyn, die nach Reno gekommen ist, um sich scheiden zu lassen. Es ist Marilyns letzter fertiggestellter Film. Während der Dreharbeiten wird sie vom Regisseur John Huston in eine Entziehungskur geschickt. Sie konsumiert ständig große Mengen Alkohol und Barbiturate. Huston ist selbst dem Alkohol und dem Spiel zugeneigt. Von seiner Produktionsfirma erhält er zusätzlich zu seinem Honorar von 300.000 Dollar vertraglich 50.000 Dollar zum Verspielen in den Casinos von Reno. Montgomery Clift, neben Eli Wallach und Clark Gable einer der drei männlichen Hauptcharaktere des Films, ist ebenfalls für exzessives Trinken bekannt. Clark Gable stirbt zwölf Tage nach dem Abschluss der Dreharbeiten. Als Ursache wird die körperliche Anstrengung nach seiner vorherigen Crash-Diät vermutet, aber seine Frau ist schiebt die Schuld auf Marilyn. Diese habe durch ihr notorisches Zuspätkommen im ganzen Team permanent Stress erzeugt.

»Ihr seid alle verloren!« schreit Roslyn im Film den drei Männern entgegen – und das wirkt nicht nur deshalb authentisch, weil sie in der Wüste Nevadas Mustangs einfangen, die dann zu Hundefutter verarbeitet werden sollen. Auch sie selbst ist eine Verlorene. »When you win you lose«, sagt sie, und fügt hinzu: »Ich falle immer wieder hinter den Anfang zurück.« So auch am Ende dieses Films, wo sie die frisch gewonnene Freiheit von ihrem Ex-Mann gegen einen neuen Bindungsversuch mit der Figur von Clark Gable eintauscht, der ihr Vater sein könnte. 

Das Drehbuch des Films stammt von Arthur Miller, dem derzeitigen Ehemann Marilyn Monroes. Die Ehe befindet sich in Auflösung, Marilyn hat gerade eine Affäre mit Yves Montand hinter sich, und Miller, der bei der Produktion von The Misfits anwesend ist, lernt am Set die Magnum-Fotografin Inge Morath kennen, die nach der Scheidung von Marilyn seine nächste Ehefrau wird. Er wusste, schreibt er später, an jedem Tag, dass Marilyn unrettbar verloren ist. 

A. Der Gegenstand von Last Rondo ist nicht das Geschehen des Films. Das Video konzentriert sich auf einen einzigen tänzerischen Bewegungsablauf und verdeutlicht ihn durch eine endlose Wiederholungsschleife. Die ewige Wiederkehr des Gleichen kann pharmakologische Wirkungen haben und gerade nicht den Eindruck einer Wiederholung hervorrufen, sondern den eines Abhebens aus dem Hier und Jetzt, sogar aus dem Chronotopos des Ausstellungs- oder Museumsbesuchs. Der visuelle und akustische Rauschzustand, den das Video zumindest anbietet, korrespondiert mit dem Rausch von Marilyns Filmfigur. 

Roslyns Tanz | Bienentanz

C. Einer der wichtigsten Bienenforscher ist der in Genf geborene François Huber. Er ist blind und forscht mit der Hilfe seines sehenden Dieners François Burnens. Seine Frau bringt seine Erkenntnisse 1792 zu Papier. Ludwig Büchner politisiert 1876 Beobachtungen über den »Bienenstaat« und seine Regierungsform, und Maurice Maeterlinck poetisiert 1901 die Lebenswelt der Bienen, ohne neue Erkenntnisse hinzuzufügen. Zu den bis heute maßgeblichen Darstellungen gehören die Anfang der 1950er Jahre erschienenen Forschungsberichte von Karl von Frisch, in denen er die Kommunikationsformen von Bienen beschreibt. Findet die Biene eine Futterquelle, die weniger als 100 Meter von dem Bienenstock entfernt ist, so führt sie nach Rückkehr in den Bienenstock auf einer senkrecht stehenden Wabe eine Art Tanz auf, mit dem sie die Qualität und die Lage eines Fundes mitteilt. Es gibt drei Tanzmuster. Beim Rundtanz läuft die Biene abwechselnd links- und rechtsherum im Kreis. Je ergiebiger die Futterquelle ist, desto lebhafter und länger tanzt sie. Beim Schwänzeltanz wird sogar die Richtung und die Entfernung der Fundstelle angezeigt. Das Ganze findet in nahezu vollständiger Dunkelheit statt, und dennoch können zwei oder drei andere Bienen die Tänze verfolgen. Sie bleiben mit ihren Fühlern möglichst nahe am Hinterleib der Tänzerin und nehmen nicht nur ihre Bewegungen auf, sondern auch den Geruch der besuchten Pflanze. Sobald ein Tanz vollendet ist, machen sich die Folgebienen auf den Weg zur Fundstelle. Das Ziel des Rundtanzes ist also, andere Sammler auf die Suche zu einer Nahrungsquelle zu schicken. 

A. Der Tanz Marilyns ist ein verzweifelter Ausbruchsversuch aus der Gruppe, in die sie zufällig hineingeraten ist, und aus einer Gesellschaft, in der ihre Chancen auf Selbstverwirklichung schlecht stehen. Der Versuch muss scheitern. Ihre Figur Roslyn hat gerade durch eine Scheidung ihre Freiheit zurückgewonnen und dennoch keine Aussicht auf Selbstbestimmung und Glück. Sie ist wieder dort angekommen, wo sie begonnen hat, und nur noch unglücklicher als zuvor. Immer wieder entgleiten ihr die Bindungen, die ihr wichtig sind. Die Mutter ist verschwunden, der Ehemann ist nie für sie da gewesen. Diese Roslyn löst sich nun auf einer Alkoholparty nach einem wilden Tanz mit Eli Wallach aus dessen Umklammerung, verlässt sein Haus und tanzt allein – halb schwebend, halb torkelnd – auf einen Baum im Garten zu. Dort nimmt sie sogleich der herbeigeeilte Clark Gable in Empfang und führt sie fort. Marilyns Tanz lenkt die anderen Protagonisten nicht auf die Spur eines entfernten Glücks, sondern lässt sie selbst zu einer Beute werden.

D. Das Verlorensein in einer sich endlos wiederholenden Schleife der Anziehung und des Verlassenwerdens erinnert an das Drama der ewigen Wiederkehr, das Friedrich Nietzsche beschrieben hat. Er lässt in Die fröhliche Wissenschaft einen Dämon sprechen: »Dieses Leben, wie du es jetzt lebst und gelebt hast, wirst du noch einmal und noch unzählige Male leben müssen; und es wird nichts Neues daran sein, sondern jeder Schmerz und jede Lust und jeder Gedanke und Seufzer und alles unsäglich Kleine und Grosse deines Lebens muss dir wiederkommen, und Alles in derselben Reihe und Folge — und ebenso diese Spinne und dieses Mondlicht zwischen den Bäumen …« Wer in eine kognitive oder emotionale Schleife gerät und keinen Ausweg sieht, wird seinen Dämon verfluchen und möglicherweise sogar den eigenen Untergang herbeisehnen. Die Empfindung, in einer Zeitschleife zu stecken, ist gleichbedeutend mit einem Verlust der Zeit überhaupt. Das in der Vergangenheit Erlebte und Verdrängte schiebt sich vor die Wahrnehmung des Gegenwärtigen und nimmt eine Person gefangen wie in einem bösen Traum. In der Story des Films The Misfits, im Leben Marilyn Monroes und im Video Last Rondo gibt es verschiedenartig bestimmte Zeitschleifen. Im Film wie im Leben des Stars dominieren in ihnen die Muster der aufeinander folgenden Partnerschaften und der Rolle, die Roslyn/Marilyn in ihnen spielt. Die Zeitschleife des Videos stellt eine eigene Zeitkategorie zwischen einer unbestimmten Vergangenheit und einer unbestimmten Zukunft dar. Dieses Zwischenreich wird von der Phantasie gefüllt.

A. Das Video Last Rondo konzentriert sich auf die wenigen Sekunden, die sich die Filmfigur Marilyns im Niemandsland zwischen dem Ende einer Begegnung und dem Beginn einer neuen erobert. Der Inhalt des Videos ist ein Stück Film, dessen Bestandteile isoliert und neu zusammengesetzt werden. Es entspricht damit der These Marshall McLuhans, dass der Inhalt eines neuen Mediums jeweils ein älteres, bislang dominierendes Medium ist. Die Tonspur des Films ist von der Bildsequenz abgetrennt und im Video durch eine andere ersetzt. Materialtechnisch betrachtet ist die Videospur auch keineswegs eine Montage vorgefertigter, also schon vorhandener Filmelemente. Sie beruht vielmehr auf einer eigenständigen Produktionkette, also der Aufnahme eines gewählten Bildausschnitts mit einer Kamera, der Speicherung, digitalen Wandlung und Bearbeitung sowie der Präsentation in einer speziellen Installation. Das unterscheidet dieses Werk von Montagen, die mit Kopien des Ausgangsmaterials arbeiten und ihm durch Mischung und Überlagerung anderes Material hinzufügen, dabei auch Zeitabläufe ändern (beschleunigen oder verlangsamen). Die Kadrierung – der Bildausschnitt – von Last Rondo ist eine andere als die des Films, die Videokamera macht sich durch Eigenbewegungen bemerkbar. Die Tonspur gibt nun eine Passage aus dem Song »One Silver Dollar« wieder, den Marilyn Monroe in Otto Premingers Film River of no return singt. Es ist eine träumerische Vokalise, die mit der Rosafärbung des Videos und der Weltabgewandtheit der tänzerischen Bewegung der Protagonistin korrespondiert. 

E. Videoloops sind seit den 1960er Jahren in Ausstellungen präsent und dort eine häufige Präsentationsform. Bereits vor der Erfindung des Films werden mit mechanischen Apparaten Filmerlebnisse erzeugt, die auf Schleifen basieren. Das Zoetrop wird Mitte des 19. Jahrhunderts zum Familienvergnügen, und das von Charles-Émile Reynaud 1877 entwickelte Praxinoskop ermöglicht bereits die Projektion eines Bildstreifens, der in einer karussellförmigen Trommel angebracht ist, in theaterartigen Aufführungen. Das Filmerlebnis vor dem Kino ist das Erlebnis eines Loops. Mit dem Loop wird eine neue Art der Aufmerksamkeit erzeugt, die mit anderen Verarbeitungsmechanismen verknüpft ist als die Betrachtung unbewegter Bilder. Diese Aufmerksamkeit ist mit einer Disziplinierung verbunden, zum Beispiel dem Aufenthalt an einem Präsentationsort, an dem Umweltwahrnehmungen zugunsten der Wahrnehmung eines Objekts eingeschränkt sind – wie schon im Theater. Die Lenkung der Aufmerksamkeit auf die Bühne des Wagnerschen Musiktheaters oder einen Projektionsschirm in einem abgedunkelten Raum beschreibt Jonathan Crary als Strategie, die Individuen zu isolieren und sie Zeit in einem Zustand der Ohnmacht erleben zu lassen. Andererseits erweitert das Spektakel der Inszenierungen die sensorischen Wahrnehmungen auf den gesamten Körper. Zudem wird über die Bewegungsillusion, die ein Praxinoskop erzeugt, eine ganze Kaskade phantasmagorischer Anstöße erzeugt, die weit über die Wirkung immersiver Bildbetrachtung hinausgeht. Bei der Betrachtung eines Loops gerät die Zeitwahrnehmung des betrachtenden Subjekts aus den Fugen. Sie ermöglicht tranceartige, hypnotische Zustände der Zeitvergessenheit. Genau in diesem Punkt tendieren bei Marikke Heinz-Hoeks Video Inhalt und Rezeption zu einer Übereinstimmung. Die hypnagogische Sound-Schleife unterstützt das Abheben der Wahrnehmung aus dem Hier und Jetzt der physischen Umgebung und das ganzheitliche Eintauchen in eine andere Sphäre, die – wie jedes sensorische Erlebnis – in Wahrheit von den Rezipienten selbst geschaffen wird.

A. Alle Künste werden im Zeitalter der technischen Medien zu Nachrichtentechniken. Friedrich Kittler illustriert diese Behauptung mit der von Speichermedien jederzeit abrufbaren Rockmusik, die an die Stelle von Dichtung tritt und das durch Stampfen mit dem Fuß unterstützte Memorieren von Verszeilen erübrigt. Marikke Heinz-Hoeks Videoarbeit greift eine Szene aus einem 1960 gedrehten Kinofilm heraus, der in stark qualitätsreduzierter Form auf Videokassetten vertrieben wird, deren Abspiel auf einem Fernsehgerät erfolgt. In den ersten drei Sekunden von Last Rondo – und jeweils alle 16 Sekunden wieder – ist links der Rand des Monitors zu sehen, von dem die Szene mit einer analogen Videokamera abgefilmt wird. Das aufgenommene und dabei initial bearbeitete, danach mit digitaler Technik weiter verfremdete schwarz-weiße Material wird von einer nunmehr digitalen Kopie wiedergegeben. Das 1998 entstandene Video schließt bearbeitungstechnische Schritte ein, die schon zehn Jahre später museal geworden sind. In der finalen digitalen Kopie sind sie aufgehoben. Es wäre eine endlose Zahl weiterer qualitativ identischer Kopien möglich. Konsequenterweise ist das Werk kein Unikat, sondern existiert in drei dokumentierten Exemplaren. Im nachrichtentechnischen Bereich der Bearbeitung, Speicherung und Verbreitung behauptet sich Kunst so als ironisches Spiel.