Stellungnahme zum Telemedienkonzept ARD Kultur

06.12.2022 | Telemedienkonzept für ardkultur.de

Der Begründung des Angebots in der Präambel – vor allem dem Hinweis auf die Gefahr, dass die Telemedienangebote „den Anschluss verlieren und in der Folge den Bedürfnissen der Gesellschaft nicht mehr gerecht werden (…) können“ – stimme ich zu. Allerdings mache ich für diese Gefahr nicht nur den engen gesetzlichen Rahmen, sondern auch die Strategien der öffentlich-rechtlichen Anstalten verantwortlich, die in ihren Plänen zeitlich und substanziell hinter den erkennbaren Entwicklungen auf den Medienmärkten und im Bereich der Mediennutzung zurückbleiben.

Inhaltliche Beschreibung

Die Beschränkung eines neuen Portals mit öffentlich-rechtlichen Kulturangeboten auf Produktionen der ARD-Anstalten und eventuell mit ihnen verbundene Partner aus dem Bereich von Kulturinstitutionen ist aus der Sicht potentieller Nutzer nicht nachvollziehbar und wird im Text auch nicht begründet. Zwar wird auf S. 6 von einer Zusammenarbeit mit dem ZDF gesprochen, das Portal ist jedoch keine Gemeinschaftseinrichtung von ARD, ZDF und Deutschlandradio. Damit wird die problematische Praxis des getrennten Betriebs von Mediatheken fortgesetzt. Sie wäre nur dann verständlich, wenn Mediatheken ausschließlich „verpasste Sendungen“ anbieten würden. Diese Denkweise der 1990er Jahre ist jedoch durch die aus den ARD/ZDF-Medienstudien bekannten Nutzungsgewohnheiten überholt. Die zunehmende Nutzung audiovisueller Inhalte unabhängig von den linearen Angeboten ist seit mehr als einem Jahrzehnt ein Thema der medienwissenschaftlichen Diskussion, das an den Verantwortlichen der öffentlich-rechtlichen Systeme nicht vorbeigegangen sein kann. Wenn sich allerdings digitale Angebote an Nutzerinnen und Nutzer richten, die mit den linearen Medienangeboten kaum noch vertraut sind, hat die getrennte Veranstaltung von Mediatheken weder einen markenstrategischen Sinn noch kann sie auf irgendeine andere Weise produktiv sein. Die „Vernetzung“ durch die Suchfunktion, die für eine kleine Teilmenge der ARD- und ZDF-Mediathek-Inhalte eingerichtet wurde, reicht nicht aus. Es scheint grundsätzlich am Willen zu mangeln, sich den Verhältnissen und Gewohnheiten in der digitalen Medienwelt vollständig zu stellen. Auf der Angebotsseite erfordert der durch global operierende Anbieter geprägte Streaming-Markt eine Konzentration der regionalen, also europäischen und nationalen, Kräfte. Vor allem aber ist es für die Nachfrageseite, das zu gewinnende Publikum, erforderlich, die (nach einer Formulierung des BVerfG) nicht an der Marktlogik orientierten deutschen Telemedienangebote optimal zu bündeln, so sortieren und zukunftsfest zu machen.

Die im Konzept auf S. 5 genannten „Themencluster“ verweisen auf einen marktorientierten Kulturbegriff. Aufgeführt werden ausschließlich die institutionalisierten Genres Literatur, Musik, Kunst, Tanz, Design. Ein umfassenderer Kulturbegriff, wie er seit Jahrzehnten in kulturwissenschaftlichen Arbeiten vertreten wird, bezieht sich auch auf vielfältige andere Aspekte der Lebensweise von Menschen. Darüber hinaus ist Kultur durch zwei Begriffe gekennzeichnet, die ich im Konzept am meisten vermisse: Kommunikation und Kritik.

Das Portal ARD Kultur hätte die Chance, den aus den linearen Programmen weitgehend und zum Teil vollständig verdrängten Genres Kurzfilm, Animationsfilm, Soundart wieder eine „Heimat“ zu geben und auch Produktionen zuzulassen, die hinsichtlich ihrer Länge, ihrer Dramaturgie und sonstigen Vorgaben nicht den industrialisierten Formaten der Sendeschemata entsprechen.

Das auf S. 6 genannte „Content-Netzwerk“ ist ausschließlich als ein Netzwerk von Anbietern gedacht. Dass deren Austausch, Kooperation und Bemühung um Innovation gefördert wird, ist selbstverständlich begrüßenswert. Die Vernetzung mit dem kulturinteressierten Publikum wird jedoch weder erwähnt noch technisch und organisatorisch in irgendeiner Weise ermöglicht.

Die „Kernzielgruppe“ der 30- bis 50-Jährigen ist zu undifferenziert, ebenso die „Communities of Interest“ der über 16-Jährigen. Die Zielgruppen werden in der Tradition von Marketingkonzepten als Konsumenten angesprochen, nicht als Dialogpartner. Eine „Community“ konstituiert sich allerdings vor allem durch Kommunikation, durch die fortlaufende Verständigung, auch durch Kontroversen. Hierfür bietet ARD Kultur keinen Raum.

Der geplante Einsatz von KI-Techniken zur Personalisierung des Angebots ist kein Ersatz für eine Kommunikationsplattform mit interaktiven Möglichkeiten.

Verweildauern

Gerade bei Angeboten, die eine kulturelle Orientierung der Rezipienten fördern sollen und die auch im Hinblick auf ihre potentielle kulturhistorische Dimension durchdacht werden müssten, ist das im Konzept vorgestellte Verweildauer-Raster ungeeignet. Es widerspricht den kulturellen Bedürfnissen vieler Beitragszahler, wenn sie z. B. auf Hörspiele, Lesungen, Features, Dokumentationen und Reportagen bereits nach 12 oder 24 Monaten nicht mehr zugreifen können. Die Begründung dafür fehlt – stattdessen werden die Rezipientenbedürfnisse mehrfach referenziert, ohne sie jedoch konkret zu benennen. Sollte der eigentliche Grund für die Einschränkung der Verweildauer darin zu finden sein, dass für viele Produktionen nicht die Rechte für eine unbeschränkte Online-Verbreitung erworben werden, ist die Argumentation mit den angeblichen Bedürfnissen sogar massiv irreführend. Es muss daher verlangt werden, dass alle Inhalte von ARD Kultur grundsätzlich in die Kategorie der zeit- und kulturgeschichtlichen Archive eingeordnet werden. Für wenige Angebotsgenres wären Ausnahmen möglich, so für die „europäischen Lizenzproduktionen“, für die es staatsvertragliche Vorgaben gibt.

Aussagen zum Dreistufentest

Die Konzeptdarstellung unterschlägt, dass ein großer Teil der kulturellen Orientierung im Internet auf Social-Media-Plattformen bestätigt, vertieft und erworben wird und nicht im „medialen Internet“. Letzteres ist eine Erfindung der ARD/ZDF-Onlinestudien. Der Begriff soll offensichtlich dabei helfen, die wöchentliche Nutzungszeit des Internets gegenüber den traditionellen Medien geringer erscheinen zu lassen. „Nicht-medial“ sind vor allem die Social-Media-Plattformen mit ihren privaten Kommunikationen. Jedoch ist gerade diese virtuelle face-to-face-Kommunikation für die Entwicklung von Orientierungen und Einstellungen relevant, wie medienpsychologische Studien immer wieder belegen. Die kommunikativen Bedürfnisse von Internetnutzern drücken sich unter anderem in den ausgetauschten Links, Snippets, Kommentaren und unabhängigen Meinungsäußerungen aus, die Inhalte fortlaufender privater Gespräche sind. Für diese Kommunikation stellt ARD Kultur keine Plattform zur Verfügung. Die vage Ankündigung, dass Inhalte von ARD Kultur auch auf Fremdplattformen verbreitet werden sollen, auf denen die Möglichkeit der Nutzerkommunikation besteht, ist nicht per se kritikwürdig. Damit werden die vorhandenen Nutzergewohnheiten respektiert, und den Inhalten wird damit eine größere Reichweite verschafft. Dass jedoch nun die orientierungsfördernde Kommunikation über beitragsfinanzierte Kulturinhalte ausschließlich auf Fremdplattformen wie Youtube und Instagram verbannt wird, ist ein klarer strategischer Fehler. Die zunehmende Entfremdung zwischen Teilen der Beitragszahler und den öffentlich-rechtlichen Systemen ist auch auf die Kommunikationsverweigerung seitens von ARD und ZDF im Internet zurückzuführen.

Die auf S. 18 formulierte Gefahr einer „Spaltung“ der Gesellschaft in Stadt- und Landbevölkerung ist aus soziologischer Sicht problematisch. Bei der Behauptung werden die unterschiedlichen alltäglichen Kommunikationsverhältnisse in den verschiedenen Umgebungen unterschlagen. Das dichtere Kommunikationsnetz, das in dörflichen Gemeinwesen immer noch existiert, ersetzt kein Kino und keine Oper. Andererseits ist die jüngere Landbevölkerung – die im Konzept erwähnte Gruppe der 30- bis 50-Jährigen – mobil genug, um sich entsprechende Bedürfnisse nicht zu versagen. „Spaltungs“szenarien sind momentan im Trend1. Es wäre jedoch sinnvoll, die Rücksicht auf die vorhandene Schichtung des Publikums gelassener und analytischer anzugehen.

Einige dem Verweildauerkonzepts direkt widersprechende Behauptungen finden sich auf S. 18. Sie besagen, der öffentlich-rechtliche Rundfunk stelle seine Inhalte „allen im Internet nachhaltig zur Verfügung“ und leiste „einen relevanten qualitativen Beitrag zum gesellschaftlichen Diskurs“. Die 12- bis 24-monatigen Stippvisiten der Inhalte auf ARD Kultur im Netz ermöglichen keinen relevanten qualitativen Diskurs und erfüllen somit auch nicht die Anforderungen an ein nachhaltiges Angebot. Zudem beteiligt das Angebot das Publikum auf seiner Plattform an keinem direkten Diskurs. Dafür sind die von verschiedenen kommerziellen amerikanischen und chinesischen Drittplattformen eingerichteten Kommentarrubriken und Dialogmöglichkeiten zuständig. Interessierte Nutzer müssen ARD-Inhalte dort suchen, um sich dort über sie austauschen zu können und eventuell auch mit den Urhebern bzw. Kuratoren in Kontakt zu kommen.

Wettbewerbssituation

Die im Abschnitt 4.2 des Konzepts aufgeführten Wettbewerber unterstreichen die Sicht, dass es sich bei ARD Kultur hauptsächlich um ein „Kulturwarenhaus“ handeln soll. Kommunikative Aspekte fehlen auch hier.

Fazit

Das Telemedienkonzept beschreibt eine Verbreitungsplattform, die der Situation im Internet und den bekannten Nutzergewohnheiten nicht gerecht wird. Die Mediatheken von ARD und ZDF verzichten aus diskussionswürdigen Gründen (Workflow von Redaktionen, Kosten) auf die Ermöglichung von Kommentaren und Dialogen von und mit Nutzern. Die „hohen qualitativen Standards“, von denen im Sinne von Eigen-PR im Konzept die Rede ist, werden in keiner nachvollziehbaren Weise zur Überprüfung angeboten. Den Aufsichtsgremien müssen daher eigene konkrete Qualitätsmaßstäbe entwickeln, um mit den Verantwortlichen für das Portal in Dialog treten zu können.

Der Kulturbegriff von ARD Kultur, der im Telemedienkonzept und im vorhandenen vorläufigen Angebot durchscheint, ist populistisch und marktorientiert. Die im Konzept skizzierte Formatkultur entspricht nicht dem verfassungsrichterlichen Auftrag, von der Marktlogik verschiedene Angebote zu entwickeln.

Das Konzept verfehlt zudem den Innovationsauftrag der Verfassungsrichter, der sich aus der mehrfach bestätigten Bestands- und Entwicklungsgarantie ableiten lässt. Online-Mediatheken, die nur Abspiel- und nicht auch Kommunikationsplattformen sind und somit den Anschluss an die dynamische Medienentwicklung verweigern, verletzen diesen, auch im Medienstaatsvertrag enthaltenen Funktionsauftrag. Kultur ist ohne Dialog kaum vorstellbar. ARD Kultur hätte die Chance, den Geburtsfehler der ARD Mediathek und Audiothek zu korrigieren, indem technisch und redaktionell die Kommunikation mit den Nutzern und unter den Nutzern ermöglicht wird.

Der mehrfach im Konzept erwähnte Anspruch, ein vielfältiges Angebot für unterschiedliche Zielgruppen herzustellen, adressiert auch nicht konkret eines der größten Defizite der linearen und nonlinearen Angebote der ARD, nämlich den ausbleibenden Versuch, die annähernd 25% umfassenden Gruppen der Bevölkerung und Beitragszahler anzusprechen, die Ausländer sind oder einen migrantischen Hintergrund haben.

Finanzierung

Die im Konzept dargestellten Posten bleiben ebenso intransparent wie die Angaben über die Organisation der Arbeit. Die Summe von knapp 5 Mio € jährlich bestätigt die Vermutung von Kritikern, dass Kultur und Bildung in der ARD immer mehr ins Abseits gedrängt werden. Der vorgesehene Betrag kann nicht einmal die Funktion als Feigenblatt beanspruchen. Für die Behebung der Defizite und Ungleichgewichte in den Telemedienangeboten der ARD im Hinblick auf Inhalte, Zielgruppen und Kommunikationsform reicht die Finanzierung dieses Kulturportals bei weitem nicht aus.

Zum Verfasser

Der Verfasser war als Medienwissenschaftler Professor an der RFH Köln und an der Leuphana-Universität Lüneburg. In der ersten Serie der Dreistufentests war er medienökonomischer Gutachter in vier Verfahren des SWR und WDR. Ein von ihm geleitetes Projekt („Hyperbole“) erhielt 2015 einen Grimme-Online-Award in der Kategorie Kultur und Unterhaltung. Jüngste Buchveröffentlichung: Nach dem Rundfunk, Halem-Verlag 2021.

Bremen, 06.12.2022


1  Siehe dazu das Buch von Jürgen Kaube und André Kieserling: Die gespaltene Gesellschaft. Berlin: Rowohlt 2022.