Ein Wiki ist keine Enzyklopädie

Die Popularität und insofern der Erfolg der Wikipedia ist unbestreitbar. Heute wird sie 15 Jahre alt. Wer wissen möchte, wieviele Einwohner Finnland hat oder über welche Trivia aus dem Leben bekannter Künstler auf einer Vernissage geplaudert werden könnte, ist mit der Wikipedia gut bedient. Wer hingegen wissen oder erforschen möchte, was es mit dem Sturm und Drang oder dem Geniekult auf sich hat, wird mit kurzen, zufälligen und oberflächlichen Bemerkungen abgespeist und erhält nicht einmal einigermaßen aktuelle, ausgewogene und weiterführende Literaturhinweise. Die Beiträge in traditionellen Jugendlexika waren sinnvoller strukturiert und lehrreicher. Das in der Wikipedia offenbar durchgesetzte Prinzip, dass eben nicht die besten Experten die Artikel schreiben, sondern Laien und Banausen, senkt das Niveau oft auf ein unerträgliches Maß herab. Es gibt im Wikipedia-Ozean auch viele bemerkenswerte Beiträge und Rubriken. Ein internationales Filmlexikon ist überflüssig geworden, weil die amerikanische Wikipedia eine Unzahl von Filmen enthält und nach einem sehr brauchbaren Standard beschreibt.

Das Darstellungsniveau der (deutschen) Wikipedia erreicht nicht einmal das der Konversationslexika, die sie vom Markt verdrängt hat. Sie ist das umfassende Coffeetable-Nachschlagewerk, auf dem Smartphone allzeit zur Hand, ein Problemlöser bei Gedächtnislücken in belanglosen Alltagsgesprächen. Eins ist sie jedoch nicht: eine Enzyklopädie. Dazu fehlt ihr bereits programmatisch das Format. Enzyklopädien wurden nie von Laien geschrieben, nahmen zu wichtigen Gegenständen nie einen neutralen Standpunkt ein und – hatten Autoren, die für ihre Beiträge einstehen konnten und mussten. Lemmata von Enzyklopädien wie der von d’Alembert und Diderot oder der Allgemeinen Deutschen Biographie wurden wegen ihrer Autoren und deren Positionen gelesen. Ein neutraler Standpunkt à la Wikipedia täuscht eine abgeschlossene Meinungsbildung vor und tötet jede weitere Frage, die Nutzer entwickeln könnten.

Kleiner Ausschnitt aus der Versionsgeschichte des Lemmas Oskar Loerke in der deutschsprachigen Wikipedia.
Überflüssiges Klein-klein statt eines Beitrags kundiger Autoren: Kleiner Ausschnitt aus der Versionsgeschichte des Lemmas Oskar Loerke in der deutschsprachigen Wikipedia.

Abgesehen davon enthält die Wikipedia Myriarden unsäglicher Fehler. Über den Lyriker und Lektor Oskar Loerke ist wenig Substanzielles zu erfahren. Als Vergleich bietet sich die Neue Deutsche Biographie an. Loerke war 1933 bezahlter Sekretär der Sektion für Dichtkunst in der Preußischen Akademie der Künste und Mitglied dieser Akademie bis zu seinem Tod. Die Position als Sekretär gab er auf, nachdem gezielter Druck auf ihn ausgeübt worden war. Die Wikipedia-Autoren erfinden einen Ausschluss aus der Akademie [Stand: heute]. Ein Korrekturversuch würde zuverlässig scheitern, auch wenn eine Quelle wie die Website der heutigen Akademie angegeben würde. Ein klassisches abschreckendes Beispiel sind in dieser Hinsicht die Bemühungen von Philip Roth, eine unzutreffende Erklärung zu einer seiner Romanfiguren aus der Wikipedia zu entfernen.

Wir werden weiter mit der Wikipedia leben müssen. Sie kann bei Google-Suchanfragen übrigens einfach ausgeblendet werden: dem Suchbegriff muss dazu nur „-wikipedia“ hinzugefügt werden.