Auf der Suche nach dem Allgemeinen

In leicht redigierter Fassung und unter dem Titel Das muss konkret werden erschienen in der F.A.Z. vom 30.06.2020

06.07.2020 | Die deutsche Medienpolitik bezieht ihren Auftrag letztlich aus der im Grundgesetz gewährten Garantie der Medienfreiheiten für Presse, Rundfunk und Film. Diese drei Massenmedien sind inzwischen in ihren Lebensherbst eingetreten. Ihr Ende ist noch nicht abzusehen, aber zumindest in den klassischen Formen der gedruckten Presse und des linearen Rundfunks wahrscheinlich. Die neben ihnen entstandenen Medien- und Kommunikationsplattformen gewinnen wachsende Bedeutung, funktionieren aber nicht wie Massenmedien und können deshalb auch nicht mit den auf sie zugeschnittenen Instrumenten reguliert werden. Diese Erkenntnis im Beitrag von Carsten Brosda und Wolfgang Schulz (F.A.Z. vom 10.06.2020) weckt zunächst die Hoffnung auf Anstöße zu einer medienpolitischen Wende, die dem aktuellen und künftigen Mediengefüge gerecht wird. Ihr Text ertränkt diese Hoffnung jedoch in einem Ungefähr von nur wenigen konkreten Ideen.

Die Medienregulierung der letzten Jahrzehnte ist mit der Leitidee der „Vielfalt“ verbunden. Unter Vielfalt verstanden Verfassungsrichter in verschiedenen Urteilen die Repräsentation der Perspektiven und Positionen verschiedener gesellschaftlichen Gruppierungen im Programm des Rundfunks und in den Publikationen der Presse. Im öffentlich-rechtlichen Rundfunk sollten die Gremien, im Bereich des privaten Rundfunks ein beaufsichtigter nicht-monopolistischer Markt und im Bereich der Presse die Gewerbefreiheit und das Kartellrecht die Vielfalt sichern. Diese Grundsätze haben angesichts der eingetretenen Veränderungen eher nur noch historischen Wert. Institutionalisierte Perspektiven von „gesellschaftlichen Gruppen“ spielen eine immer geringere Rolle, private Rundfunkveranstalter stehen im Wettbewerb mit internationalen audiovisuellen Plattformen, und die gedruckte Presse nimmt weiter an publizistischen Einheiten und an Reichweite ab. Dennoch ist die Vielzahl und Vielfalt der Quellen, auf die heutige Mediennutzer ohne Anstrengung zugreifen können, weitaus höher als vor dreißig Jahren, als der Kiosk an der Ecke und die elektronischen Wohnzimmermedien für die Vielfalt zuständig waren.

Brosda und Schulz halten die Leitidee „Vielfalt“ für nicht mehr zeitgemäß. Die Anbietervielfalt auf den Medienmärkten wird seit Jahrzehnten regelmäßig in Studien ermittelt. Dabei scheint Einigkeit darüber geherrscht zu haben, dass Daten zu Marktanteilen sowie zur Häufigkeit und Dauer der Nutzung von Medien ausreichen, um ihnen „Meinungsbildungsrelevanz“ und sogar „Medienmacht“ zuschreiben zu können. Diese Zuschreibung ist zirkulär, wenn Macht mit Reichweite gleichgesetzt wird, und blieb immer evidenzfrei im Hinblick auf die meinungsbildenden Wirkungen. Dennoch wurden aus den Konzentrationsstudien regelmäßig Bedenken im Hinblick auf die Gefahren der „Meinungsmacht“ abgeleitet. Es kann vermutet werden, dass Massenmedien zur Bildung politischer und kultureller Positionen einen deutlich geringeren Beitrag leisten als informelle Gespräche und unmittelbare soziale Kontakte. Das gilt auch für Onlinemedien im Verhältnis zu den als „nicht-medial“ bezeichneten privaten Kommunikationen in den sogenannten sozialen Medien. Letztere haben nach Ansicht vieler Forscher einen höheren Einfluss auf die Heranbildung und Stärkung von individuellen Meinungen als die Neuigkeiten aus journalistisch-redaktionellen Quellen, die ebenfalls auf Kommunikationsplattformen wie Facebook, Instagram und sogar TikTok verbreitet werden. Fatal für Regulierungsabsichten ist nicht nur, dass diese einflussreichen Kommunikationen weitgehend unsichtbar sind. Es fehlen auch tatsächliche Anhaltspunkte für die Existenz der Einflüsse von „Filterblasen“ und „Echokammern“ in den sichtbaren Kanälen. Mit diesen Begriffen, die auf anekdotischer Basis entstanden sind, sind Behauptungen verknüpft, die durch empirische Studien längst widerlegt oder zumindest stark eingeschränkt sind. Sie haben dennoch Eingang in den common sense der Politik und in den Diskurs der Regulierer gefunden.

Das Regulierungsziel „Vielfalt“ soll nach den Wünschen von Brosda und Schulz durch die Orientierung am „Allgemeinen“ ersetzt werden. Sie rufen die von Andreas Reckwitz analysierte „Krise des Allgemeinen“ zwar als Schlagwort auf, folgen aber seiner Diagnose, in der Vorstellungen einer rationalen Ordnung (auch des politischen Diskurses) und einer homogenen Kultur als pure Nostalgie denunziert werden, in keiner Weise. Stattdessen machen sie sozial- und medientechnologische Reparaturvorschläge, die wenig Aussicht auf Erfolg haben.

Es geht ihnen um drei Punkte: Die Menschen (als Bürger) sollen wissen, was die anderen wissen, Wahlbeeinflussungen sollen abgewehrt werden, und wirtschaftlicher sowie technischer Einfluss auf die Möglichkeiten des „gesellschaftlichen Gesprächs“ soll zurückgedrängt werden.

Die „gemeinsame Wissensbasis“ ist als demokratietheoretische Norm Teil des habermasianischen Wertehimmels, kann aber nicht ernsthaft in einen konkreten Arbeitsauftrag an die Medien, auch nicht an die gemeinschaftlich finanzierten, übersetzt werden. In den allgemeinen Wertekanon aufgenommen wird gewöhnlich nicht, was als Allgemeines adressiert wird. Das sattsam bekannte Beispiel des Männerkusses in der Lindenstraße oder eine Kriminalserie, in der eine Vorgesetzte mit Migrationshintergrund agiert, zeigen: Es ist die Auseinandersetzung mit dem Besonderen, wodurch in der wechselseitigen Wahrnehmung ein – wenn auch schwacher – Konnex zwischen disparaten Teilen der Gesellschaft möglich wird. Auch die stupide Banalität der Konversation in Casting-Shows, die elektronische Tanzmusik der einen und die Volksmusik der anderen Musikfraktion sowie die Einfalt rechter politischer Sprücheklopfer erweitern den allgemeinen Horizont. Dieser darf in einer pluralistischen demokratischen Gesellschaft nicht unter Konsenszwang gestellt werden.

Zum „Wissen“ über die Interessen und Themen der anderen, von dem Brosda und Schulz schreiben, trägt auch das algorithmische Feedback der sozialen Medien bei, also das Anzeigen der Follower-Zahl, der Likes usw. Die im Medienstaatsvertrag formulierte Transparenzpflicht und Diskriminierungsfreiheit sorgen bei Einhaltung durch Intermediäre dafür, dass Mediennutzer die ihnen angebotene Auswahl reflektieren und korrigieren können, wenn sie es denn wollen. Für diese Nutzer durch verordnete Eingriffe in die Anzeige-Algorithmen „die Wahrscheinlichkeit [zu] erhöhen, dass gesellschaftlich relevante Inhalte in den Aufmerksamkeitskreis gelangen“, ist allerdings eine äußerst fragwürdige Operation. Das wäre nicht nur schreiender Paternalismus, sondern auch eine Attacke auf die Freiheiten von Medienanbietern und Mediennutzern. Für eine Regulierung der Inhalte, die über die in § 93 des neuen Medienstaatsvertrags ausformulierte Transparenzpflicht hinausginge, gibt es keine legitime Begründung.

Öffentliche Kommunikation war auch früher schon konfliktreich und häufig nicht an gemeinsamen Werten orientiert. Statt ein staatlich anerkanntes „Allgemeines“ konsenspflichtig zu machen, sollten die Bemühungen auch der sozialdemokratischen Medienpolitik dahin gehen, das Abweichende, das Besondere, das Kontroverse als Normalität anzuerkennen und ertragen zu lernen. Die in der Gesellschaft spürbare und durch die Vielzahl der Medienkanäle verstärkte Unsicherheit lässt sich nicht medienpolitisch regulieren.

Die gravierendste Bedrohung unseres gesellschaftlichen Selbstbildes erzeugen die großen Plattformen und Intermediäre durch den „Social Graph“, dessen Möglichkeiten durch personalisierte Werbung erst ansatzweise sichtbar geworden sind. Ein Social Graph bildet das Beziehungsgeflecht aller Individuen einer Gesellschaft ab – soweit die verfügbaren Daten das ermöglichen. Er ist sozusagen das in der öffentlichen Kommunikation verlorengegangene „Allgemeine“, das nun nur noch von Facebook und einigen anderen Datensammlern zum Vorschein gebracht werden kann. Die Aneignung des Allgemeinen durch die internationalen großen Plattformen kann durch keine Maßnahme deutscher Medienregulierer verhindert werden.

Brosda und Schulz wollen auch bei den Programmangeboten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks die „Dimension des Allgemeinen, des alle erreichenden Angebots“ verstärken. Die detaillierte Beauftragung einzelner Programme soll aufgehoben und der Rundfunkbeitrag indexiert werden. Dass die notwendige Transformation der Rundfunkanstalten zu Onlinemedien dadurch vorangetrieben wird, ist unwahrscheinlich. Auch die Entstehungsgeschichte des Jugendangebots „Funk“ spricht dagegen.
Das Problem der unzeitgemäß aufgestellten Medienaufsicht verschärft sich, wie auch Hans Hege (FAZ 23.06.2020) feststellt, aber es fehlt an Visionen und Modellen. Ein Vorschlag des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1961 könnte vielleicht weiterhelfen. Die Richter merkten damals an, dass die Rundfunkanstalten keineswegs öffentlich-rechtlich verfasst sein müssten, sondern auch privatwirtschaftlich organisiert sein könnten – unter Beachtung pluraler gesellschaftlicher Perspektiven. Diese Unternehmen sollten dann einer Staatsaufsicht „ähnlich etwa der Banken- oder Versicherungsaufsicht unterworfen“ werden. Eine solche Medien-BaFin würde nicht die Programmarbeit, aber das Finanzgebaren, die Kooperationen und die Qualität der organisatorischen und sozialen Strukturen gemeinschaftsfinanzierter und vielleicht auch anderer Medienunternehmen kontinuierlich prüfen. Eine vorurteilslose und offene Debatte über die Chancen solcher Veränderungen, die auch außerhalb der medienregulatorischen Filterblase geführt wird, würde uns weiterbringen.